„Die Schuhe bitte auch ausziehen und gehen Sie mal zur Seite wir machen eine Sprengstoffroutinekontrolle.“
Seitdem mein Sohn 11 oder 12 Jahre alt ist, werden wir am Flughafen oft besonders gründlich kontrolliert. Auch wenn Leo alleine fliegt, um seinen Vater zu besuchen kommt es oft vor, dass er von oben bis unten durchgecheckt wird. Ich bin mir nicht sicher, was in diesen Fällen die Motivation für diese besonders gründliche Kontrolle ist, aber ich vermute es kommen mehrere Faktoren zusammen:
Leo ist sehr groß und sieht älter aus als er wirklich ist, wirkt also wie ein junger Erwachsener und nicht wie ein Minderjähriger. Er ist nicht weiß und wird aufgrund seiner Hautfarbe vermutlich entweder als Immigrant aus Nordafrika oder Lateinamerika eingeordnet. Dazu trägt er Ketten und diese unter Jugendlichen übliche Sportkleidung und hat wie er sagt „Flow“. Vermutlich ist genau dieser „Flow“ das, was Polizisten und andere Kontrollbeamten/innen motivieren, ihm misstrauisch gegenüberzutreten. Mit dieser Erklärung will ich dieses Misstrauen nicht rechtfertigen, im Gegenteil: Ich vermute, dass in vielen Fällen, in denen mein Sohn ganz besonders gründlich kontrolliert wird, „rassistisches Profiling“ der Grund hierfür ist.
Rassistisches Profiling
Dieser Ausdruck kommt aus den USA, wo Afroamerikaner/innen und Personen aus Lateinamerika besonders häufig von Polizeikontrollen betroffen sind.
Auch hier in Europa gibt es dieses „rassistische Profiling“ und in den Jahren, die ich mit meinem mosambikanischen Exmann zusammengelebt habe, hat dieser einige solcher Situationen erlebt. Jetzt fängt es an, meinen Sohn zu betreffen und es überrascht und erschüttert mich. Er ist doch noch ein Kind denke ich, seht ihr das nicht?
Folgendes ist passiert: Leo läuft mit einem guten Freund durch die Straßen und beide werden von zwei Polizisten in Zivil angehalten.
Mein Sohn muss seinen Ausweis zeigen, wird dann zur Seite genommen und ohne jegliche Erklärung auf einem öffentlichen Platz vor seinem Freund von oben bis unten durchgecheckt und abgetastet. Er muss seine Tasche abgeben und sämtliche Jacken und Hosentaschen werden gründlich untersucht.
Sein spanischer Freund muss nicht einmal seine Papiere zeigen. Auf Nachfragen meines Sohnes, ob die beiden Männer Polizisten seien, machen sich diese über die Frage lustig. Die Polizei findet nichts Verdächtiges und lässt die beiden Jungs laufen.
Wie krass ist das denn? Ohne jeden Grund wird mein Sohn durchgecheckt und behandelt wie ein Schwerverbrecher?
Und an euch Polizisten: wenn ihr meinen Sohn wegen der oben genannten Vorurteile durchcheckt, seid wenigstens so taktvoll, den Freund von ihm genauso zu behandeln, dann fällt das Ganze nicht so auf! Nachdem mein Sohn mir alles erzählt hat, schäume ich vor Wut. Hast du dir die Namen der Polizisten geben lassen? Warum hast du nicht gleich gesagt, dass du deine Mutter anrufen willst? Frage ich meinen Sohn.
Leo sagt, er hält lieber die Klappe, solange ihn niemand auf die Polizeiwache mitnimmt. Wenn er sich beschwere, würden die ihn vielleicht auch noch schlagen!
Augen zu und durch
Ich entgegne, dass er zu viele amerikanische Serien schaue und bei uns die Polizei nicht einfach so Gewalt anwenden würde. Während ich das sage, werde ich selber unsicher, ob das so stimmt.
Nach einem Telefonat mit einem befreundeten Anwalt wird mir klar, auch wenn die Polizei eigentlich einen guten Grund braucht, um Minderjährige abzutasten, würde diese immer einen finden oder im Ernstfall erfinden, so dass eine Beschwerde meinerseits keinen Sinn macht. Hier in Spanien gibt es ein Gesetz, das erlaubt, Jugendliche bis zu 72 Stunden nur wegen eines Verdachtes ohne jeden Beweis auf der Polizeiwache festzuhalten! Ich atme tief durch und stelle mir vor, was noch alles auf uns zukommen könnte!
Am Ende einigen wir uns darauf, dass er in Zukunft sofort bei mir anruft, wenn ihn die Polizei auf die Wache mitnehmen will. Ansonsten lässt er die Prozedur ohne große Diskussionen über sich ergehen.
Seit letztem Jahr ist das die vierte Situation, in der Leo von der Polizei oder anderen Kontrollinstanzen angehalten und ohne jede Erklärung kontrolliert wird. Manchmal freundlich korrekt, manchmal unfreundlich und ablehnend.
Wie kann man da noch ruhig bleiben als Jugendlicher?
Meine Frage zum Thema Rassismus ist: Wie beeinflusst es einen Jugendlichen, wenn er von Seiten der Autoritäten immer wieder als potenzielle Gefahr eingestuft wird? Wenn man ihm mit Misstrauen begegnet und ihn ohne Anlass jugendkrimineller Taten verdächtigt.
Leo hat einen starken Willen, er ist voller Energie, am Expandieren in jeder Hinsicht, und gleichzeitig noch am Ausprobieren um irgendwann seinen ganz eigenen Weg zu finden. Diesem Jungen wird immer wieder unterstellt, gegen das Gesetz zu handeln, nicht vertrauenswürdig zu sein.
Ich glaube, in seinem Alter hätte ich mit Trotz reagiert. Nicht beim ersten Vorfall und auch nicht beim zweiten. Aber wenn ich gemerkt hätte, ich werde immer wieder nur wegen meines Äusseren verdächtigt kriminell zu sein, dann vielleicht schon.
Dieser Trotz hätte bei mir vermutlich den Gedanken ausgelöst: Wenn mir sowieso immer wieder Kriminalität unterstellt wird, obwohl ich nichts anstelle, dann kann ich genausogut wirklich kriminell werden.
Ich atme tief durch und bin mir ziemlich sicher, dass mein Sohn diesen Gedanken bereits hatte. Vom Gedanken bis zur Handlung ist ja zum Glück meist noch ein gewisser Spielraum und ich hoffe, dass die Vernunft ihn auch weiterhin davon abbringen wird, diese Fantasie in die Tat umzusetzen.
Ein dickes Fell und ein gutes Selbsbewusstsein
Ich wünsche mir auch, dass sein Selbstwertgefühl ihn schützt und er diese haltlosen Unterstellungen an sich abperlen lässt, ohne sich davon angreifen zu lassen.
Ich befürchte allerdings, Leo wird auch weiterhin mit diesem Thema zu tun haben. In einer Großstadt wie der unseren ist nicht wie im Dorf darauf zu hoffen, dass nach ein paar Kontrollen sämtliche Polizisten im Ort den großen harmlosen Jugendlichen kennen und ihn freundlich im Vorbeigehen grüßen. Vermutlich werden ihn sogar die, die ihn bereits kontrolliert haben, beim nächsten Mal nicht wiedererkennen. Sie werden einfach nur einen großen Kerl sehen, der aufgrund seiner Hautfarbe Marokkaner oder Südamerikaner sein könnte und der in ihren Augen schon allein deshalb krimineller Taten verdächtig ist.
Über die Hierarchien der Nationalitäten
Beim Thema Immigration gibt es ganz klare Hierarchien. Es kommt darauf an, aus welchem Land du kommst und in welchem Land du dich aufhältst. In Spanien gehört zum Beispiel meine Deutsche Nationalität, zu der „guten und gewünschten Immigration“. Deutsche werden hierzulande nicht unbedingt als Partyknüller angesehen, aber auf jeden Fall mit positiven Werten wie „Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Gesetzestreue und Bildung“ in Verbindung gebracht.
Wahrscheinlich wird meinem Sohn eines Tages auch noch unterstellt, er hätte seine Papiere gefälscht, denn irgendwie passt sein deutscher Ausweis nicht in das von rassistischen Vorurteilen geprägte Bild. Vermutlich ist in der Welt der Vorurteile aber letztendlich auch egal, was Leo für Papiere hat und „Alemania“ als Herkunftsland wird beim flüchtigen Kontrollieren von der Polizei bei Leo vielleicht direkt als Region in den Bergen Nordafrikas eingeordnet. Ups, habe ich gerade offene Vorurteile gegenüber dem Bildungsgrad von Polizisten? Ich befürchte, ja. Ich weiß, nicht alle Polizisten handeln so und es gibt sicher auch sehr, sehr viele die kein „rassistisches Profiling“ anwenden. Als Mutter von einem 16-Jährigen, der sogar auf dem Weg zum Müll runterbringen von der Polizei kontrolliert wurde, bin ich wütend und ich finde, ich habe das Recht nicht mehr ausschließlich verständnisvoll zu sein.
Absurde Vorurteile
Der Mann in meinem liebsten Obst- und Gemüseladen, mit dem ich immer die Neuigkeiten in unserem Leben austausche, hat mir erzählt, dass er seit seiner Jugend immer von der Polizei kontrolliert wurde. Er ist extrem groß, hat einen alternativen Kleidungsstil und ist sehr, sehr lässig wie ich finde. Das allein hat dazu geführt, dass er beim Reisen ins Ausland oft gefragt wurde, wo er herkäme. Wenn er sagte, er sei Spanier fanden die meisten Polizisten, er sei zu groß für einen Spanier! Auch das kann ein Grund sein, um auf einem nordamerikanischen Flughafen ein paar Stunden festgehalten zu werden. Warum ist er auch so groß und ein Spanier? Holländer, das würde gehen bei seiner Größe, aber Spanier?
Es beruhigt mich ein wenig, zu sehen, dass die absurdesten Vorurteile Grund für häufige Polizeikontrollen sein können und dass mein Lieblingsobstverkäufer anscheinend einen Weg gefunden hat, dass dieser Generalverdacht nicht an seinem Selbstbewusstsein kratzt.
Grosser kleiner Leo
Wenn ich an den kleinen Leo denke, der schon immer sehr groß war für sein Alter fallen mir viele Situationen ein wo er im Verdacht stand, ein anderes Kind geschubst oder gehauen zu haben. Das passierte vor allem in einem Umfeld, wo man ihn noch nicht kannte, denn:
Leo war damals zwar sehr groß, aber wie ein tapsiger Bär eher einer, der mal aus Versehen irgendwas umwarf, aber keiner der viel haute oder schubste. Sobald man ihn besser kannte, fiel dieses Misstrauen meist vollständig weg.
Er hatte damals einen kleinen Freund, der schnell mal andere Kinder haute, wenn ihm etwas nicht passte. Leo guckte dann meist ganz verdutzt nach dem Motto: „Was war das denn gerade, habe ich ja fast gar nicht gemerkt!“, während sein Freund weinte, weil seine Mutter ihn schimpfte. Sobald neben dem großen Leo auf dem Spielplatz ein kleines Kind auf dem Boden lag und weinte, gingen dessen Eltern automatisch davon aus, dass Leo der Schuldige war. Vielleicht hatten sie aber einfach nur ein Kind, das hingefallen war und weinte.
Wie oft war ich in der Situation, dass mein damals 3-jähriges Kind an der Schaukel anstand und eine Mutter mit ihrem kleinen zierlichen Mädchen fragte, ob der große Junge es nicht vorlassen könne. Meist war das zierliche Mädchen mindestens genauso alt wie Leo und ich fand, dass es überhaupt keinen Grund gebe, das zarte Wesen vorzulassen. Vermutlich war die Mutter ebenfalls ein zartes elfenhaftes Wesen und schon allein das war für mich ein Grund, dieses Kind nicht an der Schaukel vorzulassen. Ja auch wir Mütter können gemein und egoistisch sein. Und neidisch!
Über die Vorteile auf den ersten Blick groß und gefährlich zu wirken
Vielleicht ist es gut auch an die Vorteile zu denken, die es jetzt für Leo hat, groß und gefährlich zu wirken. Er käme vermutlich bereits jetzt in Clubs, in die man erst ab 18 darf. Er kann problemlos in einem Supermarkt Alkohol kaufen. Hier muss ich nochmal darauf hinweisen, dass ich von Vorteilen für ihn spreche, nicht für mich! Weil er für groß und stark gehalten wird, wird sich so schnell niemand trauen, ihn anzugreifen oder auf der Straße auszurauben, vor allem wenn man vermutet, er sei selber ein Dieb. Auch die Mädchen halten ihn für älter als er ist und das ist in dem Alter, in dem die Mädchen sich meist körperlich viel schneller entwickeln als die Jungs ein echter Vorteil für einen Jungen.
Ansonsten muss er sich wohl ein dickes Fell zulegen, gelassen und ruhig Polizeikontrollen über sich ergehen lassen und dabei lässig bleiben wie mein Obst- und Gemüsehändler.
In letzter Zeit versuche ich öfter, das Thema mit Leo zu besprechen. Mein Sohn verliert sehr bald die Lust dazu und sagt mir, ich solle mal chillen und ihn jetzt endlich damit in Ruhe lassen! Vermutlich eine gute Haltung für ihn, gelassen zu bleiben und es innerlich abzuhaken.
Eines muss ich ihm noch mit auf den Weg geben: Falls er eines Tages irgendetwas nicht ganz Legales besitzen sollte, dann muss er das zur Aufbewahrung auf jeden Fall dem kleinen zierlichen Mädchen aus seiner Freundesgruppe geben. Hoffentlich erinnert sie sich nicht daran, dass er sie damals an der Schaukel nicht vorgelassen hat!
Esther
Die Geschichte hat mich sehr berührt. Ich hoffe nur, dass
Leo und Du Euch nicht entmutigen lasst.
Ich glaube, dass Deine Geschichte auch vielen Betroffenen Mut macht..
Bis hoffentlich bald, eine eifrige Leserin.