Aus dem Leben einer Mutter im Süden

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Werden Whatsappgruppen die Menschheit beenden?

Ein Blick auf den Wecker, es ist 5.00. Im Halbschlaf denke ich: Kein Klimawandel, keine Pandemie wird das Leben auf diesem Planeten beenden, sondern unsere Whatsappgruppen!

Ich stelle mir vor, dass in 10.000 Jahren neue Lebensformen auf der Erde landen und sich ähnlich wie wir mit den Dinosauriern, unser Aussterben erklären wollen. Sie finden Menschenskelette, viele vereinsamt in ihren Wohnungen, in Menschenmengen auf der Straße und alle halten sie etwas in der Hand, oder es liegt neben ihnen. Forscher werden rätseln, ob dieses Gerät eine Art Batterie war, um das menschliche Leben zu ermöglichen. Andere stellen die These auf, es sei eine Waffe, die auf Knopfdruck alles vernichtet hat. Die Wahrheit über unser Aussterben ist: Wir sind sozial verkümmert an unseren Handys, vereinsamt in Whatsappgruppen verhungert.

Whatsappgruppen versus soziale Ausgrenzung

Ich stehe auf, schlafen werde ich jetzt sowieso nicht mehr. Hier in Spanien ist es so: sobald du einer Gruppe beitrittst, zum Beispiel, weil du einen Kurs belegst, in einem Chor singst oder dein Kind in eine neue Klasse kommt, gibt es immer eine oder einen, der sofort eine Whatsappgruppe gründet. Ich weiß, es gibt auch Signal und Threema und viele anderen Möglichkeiten, sich virtuell in einer Gruppe zu verbinden. Hier in Barcelona ist Whatsapp immer noch die App, die alle benutzen. Ganz nach dem Motto: Datenschutz, wen interessiert‘s?

Natürlich hast du die Wahl, nicht in diese Gruppen einzusteigen, aber was bedeutet das? Soziale Ausgrenzung! Du weißt nicht, wer sich wo trifft, du verpasst wichtige Termine, du weißt nichts über aktuelle Konflikte. Vielleicht lebst du allerdings etwas unbeschwerter, hast 2,3 gute Freund/Innen und wenn du diese treffen willst, rufst du sie an, so wie früher.

Ausstieg aus der Nachbarschafts-Whatsappgruppe

Was ist es, was mich so stört an den vielen Gruppen, in denen ich freiwillig teilnehme?

Es gibt die großen unverbindlichen Gruppen, wie zum Beispiel meine Nachbarschafts-Whatsappgruppe. Ich wohne im 9. Stock eines Wohnblocks, ihr könnt euch also vorstellen, was das bedeutet. Als wir vor 6 Jahren hier einzogen, las ich jeden Tag die 20-100 Nachrichten mit dem Gefühl, es könne etwas wirklich Wichtiges dabei sein.

Was ist zum Beispiel, wenn jemand bei meinen Nachbarn eingebrochen hat und ich weiß nichts davon? Oder, wenn besprochen wird, wann endlich die Fassade repariert wird? Ich las alles, aber was wurde tatsächlich kommuniziert?

Es gab Fotos von Zigarettenstummeln im Eingangsbereich mit verhassten Kommentaren gegen den Übeltäter. Lustige Katzenvideos wurden von der älteren Dame aus dem dritten Stock verschickt. Das junge Paar aus 7b bat uns bei einer Auswahl von Kurzfilmen, für ihren abzustimmen. Dann gab es noch Nachbarn, die Fahrräder im Fahrstuhl oder allgemein stören. Die genervte Antwort einer Radfahrerin mit einem Link zu einem Artikel über den Klimawandel. Hundebesitzer, die sich mit anderen Hundebesitzern treffen wollen und dazwischen ein Video von Gerard aus 5a von den „Ärzten der Wahrheit“, die sagen, die Pandemie sei längst vorbei…

Diese Gruppe war für mich nicht auszuhalten und ich bin nach wenigen Wochen ausgestiegen. Jetzt fühle ich mich frei und unbelastet, habe aber keine Ahnung, was in meinem Gebäude so vor sich geht, wer mit wem zerstritten ist oder wer inzwischen „best friends“ geworden ist.

Nervenaufreibende Whatsappgruppen im Arbeitsbereich

Dann gibt es die Gruppen, in denen ich bin, die mit Kursen und Weiterbildung zu tun haben. Da geht es dann tatsächlich oft darum, ein Arbeitstreffen zu organisieren, oder Arbeitsmaterial auszutauschen. Schon allein die Absprache eines Termins kann hier zu einem Spießrutenlauf werden. Ein Teil der Gruppe einigt sich auf einen Termin, für ein Treffen. Zwei Personen antworten nicht. Am Ende sagen sie, da können sie nicht. Ich versuche, eine Alternative anzubieten. Diana antwortet, sonst niemand. Irgendwann sagt Rosa: „Hä? Wir hatten doch bereits einen Termin.“ „Ja, „ sage ich, „da können aber 2 Leute nicht.“ Hat sie die Nachricht der beiden nicht gelesen?

„Schaut doch alle nochmal in den Kalender, der Termin ist wichtig und es wäre schön, wenn wir alle dabei sein könnten.“

Keine Antwort. Es ist wie etwas in einen Tunnel rufen und du hörst nur dein eigenes Echo. Das gibt sehr viel Raum für Fantasien: Wollen alle beim ersten Termin bleiben und ärgern sich über mich, weil ich versuche, einen Termin zu finden, der allen passt? Gibt es vielleicht bereits eine heimliche Absprache zwischen den Vieren, denen der erste Termin passte, diesen zu nutzen und auf uns drei restlichen zu verzichten? Bin ich die total nervige Tante, die immer alles bereden will und niemand sonst will das?

Dann ein Audio von Concepción (übersetzt „Empfängnis“, den Namen gibt es hier wirklich!). Sie ist immer allen einen Schritt voraus und in ihrem Kopf legt sie nicht nur den Termin alleine fest, sondern auch den genauen Ablauf und alle Inhalte. Eine lange Audionachricht inmitten einer schriftlichen Terminabsprache ist zu vergleichen mit Hunden, die pinkelnd ihr Revier markieren. „Hört alle zu, ich habe etwas sehr Wichtiges zu sagen!“

Concepción hat eine laute und unangenehme Stimme, die Audionachricht ist 6 Minuten lang. 6 Minuten, in denen sie uns allen erklärt, was sie sich für unser gemeinsames Projekt vorstellt. Ein Projekt, das wir inhaltlich an dem Termin, der immer noch nicht geklärt ist, gemeinsam entwickeln wollen. Concepción hat es bereits entwickelt und uns vor die Füße geschmissen.

Ich möchte mein Handy gegen die Wand donnern.

Die Königsdisziplin: Whatsappgruppen der Familie und Freunde

Genug zur Whatsappgruppe mit Menschen, die ich kaum kenne, denn jetzt komme ich zu der Königsdisziplin aller Whatsappgruppen: Die Freundes- oder Familiengruppe.

Bei einer meiner spanischen Whatsappgruppen sind wir 7 Menschen: 6 befreundete Illustrator/Innen und eine Freundin, die irgendwann einmal bei einem Ausflug mit in die Gruppe aufgenommen wurde und jetzt immer noch drin ist. Das ist manchmal irritierend, weil sie kaum gemeinsame Themen mit uns hat, aber sie bleibt in der Gruppe, auch wenn sie fast nie mit uns kommuniziert. Wer hat schon den Mut, jemandem ans Herz zu legen, eine Gruppe zu verlassen? Vermutlich gibt es in jeder Gruppe eine Art stille Whatsappgruppen-Voyeurin. Mit den 6 Illustrator/Innen verbindet uns abgesehen von dem Beruf auch ein Sinn für schwarzen Humor (darf ich das noch sagen?). Es werden fröhlich makabre gifs und Videos verschickt, die ich meist sehr witzig finde. Manchmal erinnern wir uns gegenseitig auch daran, wann wieder irgendwelche Autorengelder beantragt werden müssen. Eine Preisverleihung eines Verlags wird hier auch kommuniziert, wobei es uns dabei vor allem um das Treffen bei einem Glas Sekt am Buffet geht.

Die ideale Gruppe denkt ihr jetzt vielleicht. Das stimmt auch, solange Politik und Pandemiethemen nicht besprochen werden. Es gibt Themen, die beim direkten Diskutieren bereits schwierig sind, als Whatsappaustausch werden sie absolut unerträglich. Vor allem wenn du weißt, 2 denken so, 4 denken anders und eine schaut wie gesagt zu. Heute, wieder ein Link zu einem Pandemieartikel im Gruppenchat. Nach fast 2 Jahren Pandemie gehe ich davon aus, dass wir alle in der Lage sind, uns unsere Informationsquellen selber zu suchen, warum muss das in dieser fröhlichen Gruppe Thema werden? Die 2. Person, die auch so denkt, unterstützt den Artikel. Alle anderen sagen gar nichts. Nichts sagen ist manchmal auch sehr aussagekräftig in diesen Gruppen. Hilft aber nicht unbedingt dagegen, dass nach 5 Tagen wieder so ein Thema aufploppt.

Ich werde innerlich aggressiv und beschließe, eine Runde Fahrrad zu fahren.

Die Gruppe: „Alle ohne Steffi“

Kennt ihr den Gedanken, dass meine Freunde bestimmt eine Gruppe haben, in der ich ausgeschlossen bin? Dass diese Illustratorengruppe nur ein Fake ist und dass es die echte Gruppe gibt, mit dem Namen: „Alle ohne Steffi?“ Ich denke das, wenn ich selber einen Vorschlag für ein Treffen mache und es antwortet niemand sofort. Erst ist es nur ein unsinniger Gedanke, doch wenn dann ein Tag vergeht und es hat immer noch niemand geantwortet, festigt sich das Gefühl… Es gibt eine Parallelwelt von Freundes- und Familiengruppen, die mich ausschließen. Zum Glück habe ich diesen Gedanken nur selten.

Zu den Familiengruppen erzähl ich hier jetzt nicht so viel, denn es sind meine treuen Leser ;-). Nur soviel: Manchmal schickt meine Mutter uns allen ein Foto von irgendetwas ohne jeden Kommentar. Zum Beispiel von einer Clownstatue. Es ist dann nicht klar, ob ihr dieser Clown gefiel oder Angst machte. Vielleicht ist sie auch einfach nur an diesem Tag bei diesem Clown vorbeigekommen und wollte ihn mit ihren Töchtern und Enkel/Innen teilen. Letztens bekamen wir alle von ihr eine Audionachricht eines sprechenden Papageien, den sie in einem Kleintierzoo aufgenommen hatte und den man bei den vielen Nebengeräuschen schlecht verstand. Ich mag die Verschickungen meiner Mutter.

Schuleltern-Whatsappgruppe, richtig schlimm!

Jetzt hätte ich beinahe die Whatsappgruppe der Eltern von Schulklassen vergessen, vor allem in der Grundschule sehr gerne genutzt. Praktisch für den Austausch kurz vor Klassenfahrten, Ankündigung von Kindergeburtstagen und Organisation bei Schulfesten. Es gibt vermutlich 5% dieser Gruppen, die es schaffen sich an diese Grundthemen zu halten. Bei allen anderen sieht es ungefähr so aus:

Mutter von Sven:„Stimmt es, dass Martina gestern dem Sven ein Stück Schokolade gegeben hat?“

Mutter von Martina: „Ja das kann sein, Martina hatte noch von ihrem Geburtstag Schokolade, warum?“

Vater von Igor: „Das geht ja gar nicht, dass unsere Kinder Zucker in der Klasse verteilen!“

Mutter von Luna: „Wollten wir nicht die Aufgabenbereiche für das Klassenfest besprechen?

Stille

Eine Stunde später:

Vater von Igor:“Ich find das jetzt echt wichtiger mit dem Thema Zucker in der Klasse.“

Jose (Vater von Martina) hat die Gruppe verlassen

Auch wenn die Adoleszenz meines Sohnes in vieler Hinsicht komplizierter geworden ist als die Grundschulzeit bin ich doch erleichtert, dass ich in keiner Whatsapp-Elterngruppe mehr sein muss.

Temporäre Whatsappgruppen

Dann gibt es noch die temporären Gruppen, zum Beispiel für ein gemeinsames Abendessen oder ein Hochzeitsgeschenk für eine Freundin. Eine praktische Einrichtung, wenn du sie gut einsetzt. Bei mir bleiben diese Gruppen oft noch Wochen nach dem Ereignis auf dem Handy, und rutschen nach unten, bis ich plötzlich sehe: „Die neureichen Sieben“ und keine Ahnung mehr habe, was das für eine Gruppe war. Ein Freund von mir, verlässt diese Gruppen immer bereits, kurz bevor das Ereignis stattfindet und dann steht auf meinem Handy:

Samuel hat die Gruppe verlassen.

Ich werde immer ein bisschen traurig bei dieser Nachricht. Was soll das heißen, er hat uns verlassen, will Samuel meine Freundschaft nicht mehr? Dann beginnt der Stress, ebenfalls möglichst bald aus der Gruppe auszusteigen, um nicht als letzte, in der Gruppe zu bleiben. Gleichzeitig bleibt die Angst, in den letzten Zügen noch etwas Wichtiges zu verpassen. Ich verabschiede mich gerne, bevor ich eine Gruppe verlasse. Ich weiß aber nie genau, ob ich danach noch auf eine Antwort warten sollte. Wie lange sollte ich warten, damit alle die Möglichkeit haben, sich von mir zu verabschieden? Eine Stunde, einen Tag?

Als letzte in einer Whatsappgruppe zu bleiben ist wie das Licht nach einer Party auszumachen, es ist spät, du bist alleine und überall liegen Dinge rum, die noch aufgeräumt werden müssen.

Über das Geschenk, in gelangweilte Gesichter zu schauen!

Haben die Whatsappgruppen unser Leben erleichtert? Ich glaube manchmal ja, und sehr oft nein. Wie oft warten wir besorgt auf eine Antwort und machen uns Gedanken über die Folgen von dem, was wir gesagt haben. Vielleicht haben alle anderen einfach keine Zeit zu antworten? Unter Umständen ist bei denen gerade ein Hamster gestorben oder jemand hat einfach nur Stress an der Arbeit. Ich sehe gerne in Gesichter, wenn ich etwas zu einer Gruppe sage. Dann sehe ich gleich, wie mein Gesagtes ankommt, ob es auf freundliche oder genervte Gesichter stößt. Ist dahinten jemand gelangweilt von meinem Gerede? Wippt Sanaz mit dem Fuß und geht zum 3. Mal hintereinander aufs Klo? Ja, das sind doch mal ganz konkrete Zeichen, danke dafür.

Ich möchte mein Leben wieder mehr im echten Kontakt stattfinden lassen. Ich sehe gerade, dieser Text ist ganz schön lang geworden. Wenn wir eine Whatsappgruppe wären, könnte ich vermutlich gleich lesen:

Sanaz hat die Gruppe verlassen.

Geh nicht Sanaz und lass uns darüber reden!

  1. Andrea

    Hallo Steffie, für mich einer deiner besten Geschichten. Liest sich gut, die story ist superwitzig, kompakt und knackig. Mit Wiedererkennungswert!!!!!

    Ich freu mich auf die nächsten Erzählungen,
    Andrea

  2. Fritzchen

    Liebe Steffi, da bin ich ganz Deiner Meinung. Ich bin mir auch sicher, daß die Whatsapp-Gruppen einem über den Kopf wachsen können. Viel Zeitverschwendung, aber ich möchte keine verlassen. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.

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