Aus dem Leben einer Mutter im Süden

Kolumne: Morgens siehst du aus wie ein toter Clown!

Vor Covid: 14, nach Covid: 16. Was sind die neuen Regeln?

Ein stetiges Knallen dringt an mein Ohr und ich schaue aus meinem Fenster. Der Himmel über der Stadt leuchtet in bunten Farben von dem Feuerwerk, das unser Stadtfest in Barcelona eröffnet. “La Merce 2021” wird unter besonderen Bedingungen gefeiert. Die wenigen Veranstaltungen und Konzerte, die trotz Pandemie stattfinden, kann man nur mit Voranmeldung besuchen. Als diese vor ein paar Tagen im Internet freigeschaltet wurden, waren innerhalb von einer Stunde sämtliche Veranstaltungen ausgebucht. Ich habe leider den Termin verpennt und bin beeindruckt von Freundinnen, die es geschafft haben, sich ein wunderbares Wochenendprogramm zusammenzustellen.

Cornern mit Freunden auf dem Stadtfest in Barcelona

Mein Sohn hat Besuch von einem Freund und geht seit Donnerstag Abends aus. Er ist jetzt 16 und jeden Tag besprechen wir aufs Neue, wie lange er ausgehen kann.

Donnerstagabend verhandelt er bis 2.00 nachts mit mir. Ich frage, was sie denn vorhaben, es gebe doch gar keine Konzerte und all das, was das Stadtfest sonst ausmacht. „Egal, es ist Stadtfest und ich treffe mich mit ganz vielen Freunden!“

Sich mit Freunden treffen ist vermutlich das Synonym für „Botellón“, ein Ausdruck abgeleitet von dem Wort „Botella“, Flasche. Unter den jungen Leuten sehr verbreitet, beschreibt es Treffen mit vielen Menschen auf Plätzen und in Parks, bei denen Flaschen mit Alkohol eine wichtige Rolle spielen. Diese sind meist als Camouflage in Plastiktüten eingewickelt, denn hier in Spanien ist das Trinken von Alkohol auf der Straße außerhalb der Bars und Restaurants verboten. Der „Botellón“ ist vergleichbar mit dem Ausdruck „Cornern“, den ich öfters in Deutschland gehört habe. Ich habe den Eindruck, dass besonders zu Covidzeiten, wo jede Art von Nachtleben sehr eingeschränkt ist, das „Cornern“ und der „Botellón“ zu einer Art Volkssport bei der Jugend geworden sind.

Welche Ausgehzeiten haben 16-jährige nach 1 1/2 Jahren Pause?

Ich merke, ich bin völlig überfordert mit den neuen Zeiten und Regeln und rufe eine Freundin an, die ebenfalls alleinerziehend ist, allerdings mit 3 Jungs! Sie sagt, ihr Sohn sei bereits am Donnerstag bis 5.00 weg gewesen, sie hätten keine Zeiten, weil sie ihm 100% vertrauen kann. Wow, krass! Ich nehme das als Anregung, merke aber, dass ich eher so bei 70-80% liege bei Leo, was ja auch gar nicht schlecht ist für den Anfang.

Bei einer anderen Freundin müssen die Kinder immer spätestens um 1.00 zu Hause sein, was bei uns zu einer größeren Revolution führen würde, also auch nicht infrage kommt. Warum bin ich so verunsichert mit den Ausgehzeiten? Vor Covid war Leo 14 Jahre alt und die Treffen mit seinen Freunden waren immer tagsüber. Maximal ist er mal am Wochenende um 20.00 abends ins Kino gegangen und um 22.00 oder um 23.00 wieder nach Hause gekommen. Das ganz normale Programm eines 14-jährigen.

Die Pandemiezeit war dann wie ein Filmriss und vieles, was Jugendliche normalerweise zwischen 14 und 16 Jahren machen, konnte nicht stattfinden. Mir fehlt also der Teil, wo Leo mit 15 zum ersten Mal bis 24.00 nachts wegbleiben möchte und ich mich als Mutter so langsam daran gewöhnen kann. Ich glaube, ihm fehlt dieser Teil auch. Nach dem Kino noch ein bisschen herumalbern in der Gruppe und laut sein auf der Straße, bis jemand aus dem Fenster ruft. Zum ersten Mal nachts ohne Eltern in der Metro sitzen und sich groß fühlen. Heimlich mit ein paar Bier oder Radlern im Rucksack mit Freunden in einem Park treffen, die Zeit vergessen und dann mit einer schlechten Entschuldigung erst um 24.20 zu Hause anzukommen. Eine erste Zigarette rauchen, die man trotz Kaugummi noch riechen kann. Ein komplettes Picknick mit nur 2 Euro zusammenstellen und gemeinsam auf einer Parkbank Abendessen.

Leo will alles nachholen, was er verpasst hat!

All das hatte Leo nicht und jetzt ist er plötzlich 16 Jahre alt und voller Energie alles nachzuholen, was er verpasst hat. Jetzt will er keine kleinen Schritte mehr machen, sondern riesige Sprünge und ich kann ihn verstehen.

Trotzdem merke ich, dass ich kaum hinterherkomme. Was ich großzügig und vertrauensvoll finde, findet er vieeeeel zu wenig. Oder ist das seine Taktik? Alle anderen dürfen immer viel mehr und eine Zeit lang habe ich ihm das geglaubt. Dann bekam ich einmal zufällig mit, dass ein Freund seiner Mutter sagte, ich sei so cool und würde immer alles erlauben. Aha, so lief der Hase also! Vermutlich bin ich irgendwo dazwischen, nicht superstreng aber auch nicht die, die alles immer erlaubt.   

Freitagmorgen frage ich ihn, was sie denn am Abend vorher gemacht hätten:

„Wir haben auf einem Platz abgehangen und Tischtennis gespielt.“

„Toll, hatte denn ein Freund von dir Tischtennisschläger dabei?“

„Nee, die hat uns ein Obdachloser, der immer auf dem Platz abhängt gegeben. Der ist befreundet mit uns.“

Oh, denke ich, das hört sich ja alles interessant an, aber ich kommentiere es nicht. Ich weiß, dass jeder Kommentar meinerseits dazu führen kann, dass er mir nichts mehr erzählt.

Nachmittags kommt dann Leos Freund und diesmal kann er mich auf Ausgehen bis 3.00 nachts hochhandeln, was er immer noch total wenig findet. Ich lasse mich auf den Deal ein, wenn alles gut klappt und sie gesund und unversehrt um 3.00 wiederkommen, dürfen er und sein Freund am Samstag bis 5.00 morgens ausgehen.

Um Punkt 3.00 kommen sie nach Hause und an dieser Stelle muss ich mal ein echtes Lob aussprechen: Mein Sohn ist sehr zuverlässig und pünktlich. Er hält sich an unsere Absprachen und manchmal finde ich das wirklich überraschend!

Unruhen beim „Cornern“. Wie verantwortungsvoll ist ein 16 Jähriger?

Am nächsten Tag ruft eine andere Freundin an, die einen Sohn hat, der oft mit Leo ausgeht. Ob ich die Nachrichten gesehen hätte: „Rund um den Plaza España haben sich 40.000 Jugendliche zum Botellón getroffen!“ So gegen 5.00 hätte es Unruhen gegeben, es gebe auch Verletzte, erzählt sie mir.

Zum Glück liegen die Jungs im Bett, schlafen noch und waren auch nicht an diesem Ort gestern Nacht. Die Freundin entscheidet, aufgrund der neuesten Ereignisse, dass ihr Sohn am Samstag nicht mehr ausgehen darf.

Ich bin ambivalent, denn eigentlich hat bei uns alles bisher gut geklappt und ich hatte Leo versprochen, dass sie Samstag noch länger ausgehen dürfen. Mit den neuen Infos der nächtlichen Unruhen bin ich aber auch ein bisschen besorgt.

Wie verantwortungsvoll ist mein Sohn? Sieht er Gefahren bereits selber oder bin ich noch immer in der Rolle, ihn davor zu bewahren? Kann ich ihn überhaupt noch vor irgendetwas bewahren in diesem Alter? Oder ist meine Rolle jetzt vor allem, ihn zu informieren über mögliche Gefahren?

Ein paar Mädchen…

Später am Frühstück dann die Frage meines Sohnes:

„Oder können wir heute bei ein paar Mädchen übernachten?“

„Was heißt denn, bei ein paar Mädchen? Könntest du mir ein paar Namen dazu geben oder eine Adresse?“ Frage ich meinen Sohn irritiert und auch ein bisschen amüsiert.

„Ach Mama du weißt schon, wir sind 16 und wollen bei Mädchen übernachten.“

Mein Sohn will keine weitere Information zu diesem Thema rausrücken, weder einen Namen, noch eine Adresse. Ich glaube, er hat sich das ganze vielleicht nur ausgedacht, um noch bessere Ausgehzeiten mit mir verhandeln zu können.

Er kommt auch nicht mehr darauf zurück, was mich vermuten lässt, dass die „paar Mädchen“ eventuell noch gar nicht von ihrem Glück wussten, Leo und seinen Freund diese Nacht bei sich zu beherbergen.

Ich entscheide mich dafür, mit den Jungs zu reden und zu erzählen, was in der vorherigen Nacht passiert ist. Dann bitte ich sie darum, sich von größeren „Botellóns“ fernzuhalten und nicht mit der überfüllten Metro zu fahren nachts, sondern lieber zu Fuß zu gehen. Schliesslich sage ich Ihnen noch, dass ich Leo erlaube lange auszugehen, dass ich ihnen aber rate, spätestens so gegen 3.00 zu kommen, da die Unruhen betrunkener Randalierer meist erst etwas später starten.

Poco a poco

Meine Entscheidung ist also für Vertrauen mit klarer Ansage und Information. Letztendlich entscheiden sich die beiden Jungs, abends mit Freunden an den Strand zu gehen. Wie ich am nächsten Morgen erfahre, haben Tausende von jungen Menschen die gleiche Idee! Wieder gibt es Unruhen in der Nacht und ich höre von brennenden Motorrädern und Schlägereien.

Als ich um kurz nach 3.00 den Schlüssel im Schloss höre, wundere ich mich. Früher als gedacht kommen die beiden, haben sie etwa auf mich gehört?

Mein Sohn kommt kurz wie vereinbart an meine Schlafzimmertür und sagt mir, dass er da ist.

Am nächsten Tag, spreche ich ihn auf sein „frühes“ nach Hause kommen an und er sagt mir: „Glaub bloß nicht, das ist, weil du es uns geraten hast! Uns war einfach langweilig!“

„Na klar!“ Antworte ich und freue mich insgeheim ein bisschen, dass mein Sohn vielleicht doch anfängt, Gefahren für sich zu sehen und gut einzuschätzen.

Dass mein Sohn drei Tage hintereinander bis spät ausgeht, ist jedenfalls neu für mich als Mutter und ich muss zugeben, dass ich erst richtig einschlafen konnte, als er wieder zu Hause war. Heute ist Montag, die Schule hat angefangen und wir kehren zu unserem normalen Alltag zurück, Leo ist erkältet und ich übermüdet. Wir werden uns wohl beide erst an diese neue Lebensphase gewöhnen müssen, „poco a poco“ wie der Spanier sagt.

  1. Fritzchen

    Ich möchte nicht in Deiner Lage sein liebe Stefanie. Die Gefahren für die Jugendlichen sind nicht zu unterschätzen. Wichtig ist , zu wissen, mit wem die Jungen zusammen sind. Du hast wieder Mal eine sehr interessante und spannende Story verfasst. Danke.

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