Heute genau vor zwei Jahren ist folgendes passiert:
Ich lerne ich die neue Lehrerin meines Sohnes kennen. Nach einem blauen Brief will ich klären, ob mein Sohn sich inzwischen in der Schule zu einem autoritätsablehnenden Hooligan entwickelt hat, oder ob sich alles im normalen Bereich der jugendlichen Rebellion bewegt.
Die Lehrerin hält viel von Leo, abgesehen davon, dass er zu viel Quatsch macht und sich leicht ablenken lässt, ist alles soweit ok.
Ich bin vorerst zufrieden, und jetzt kommt der zweite Teil der Versammlung. Mein Sohn wird dazu kommen und es sollen Noten besprochen werden, sozusagen die normale Eltern- Schul- Routine.
Die Unterhaltung mit Leos Lehrerin endet mit einem kaputten iPhone
Als Leo zur Tür reinkommt sehe ich sofort, dass etwas passiert ist. Sein Gesicht ist versteinert, er ist blass und kann mir kaum in die Augen sehen. Schlechtes Gewissen auf einen Meter neunzig verteilt!
Wir müssen darüber reden, was gerade eben passiert ist, sagt die Lehrerin.
Leo habe eine Jacke genommen, um einen Kumpel damit zu hauen, der ihn provoziert habe. Dabei sei ein iPhone aus der Jackentasche gefallen, was nach dem Aufprall auf den Tisch vollständig zertrümmert sei.
Die Jacke gehöre einem Mädchen aus der Klasse, was untröstlich sei und nicht aufhöre zu weinen.
Ich höre nur: „iPhone zertrümmert“ und eine Welle der Wut auf meinen Sohn überkommt mich.
Die Lehrerin, die sich erstmal vorbildlich raushält, lässt uns einen Moment zum Reden allein.
Ich fordere meinen Sohn auf, mir alles zu erklären:
„Salim hat mich seit Tagen provoziert, da habe ich eine Jacke genommen und ihn damit gehauen.“
„Sag mal, was fällt dir ein, einen Freund mit einer Jacke zu schlagen? Könnt ihr nicht reden, wenn es ein Problem gibt? Oder euch Hilfe suchen, wenn ihr nicht klarkommt? Ist dir klar, was für eine Kraft du hast, dass du dabei ein Handy zertrümmerst? Du musst lernen, deine Impulse zu kontrollieren, zähl bis 10 bevor du etwas tust, meine Güte! Weißt du, was das kosten wird?“
„Das werde ich bezahlen, sagt mein Sohn.“
Das wird teuer!
Mit seinem Erspartem. Geld was ich, meine Eltern und mein Sohn, seitdem er klein ist auf ein Konto legen. Ein Konto, was vielleicht mal ein Notgroschen in Zeiten seiner Ausbildung sein könnte. Ein großer Teil davon soll jetzt also für das kaputte iPhone draufgehen. Viele Jahre sparen in einer wütenden Sekunde dahin!
Ich bin total geladen und nein, wir haben keine Versicherung. Es ist kurz vor Weihnachten und ich und mein Sohn werden unser erstes iPhone kaufen. Ein iPhone, was bereits kaputt ist! Warum haben 14-jährige Mädchen bereits iPhones? Konnte es nicht ein altes Huawei sein in dieser Jackentasche?
Ich bespreche kurz, dass die Lehrerin meine Telefonnummer weitergeben darf, an die Eltern des untröstlichen Mädchens und fahre nach Hause.
Das Gespräch mit dem belgischen Vater
Der Vater des Mädchens ruft abends an, ein Belgier, wir kennen uns nicht. Ich bin freundlich, entschuldige mich und versuche die unangenehme Situation möglichst sachlich und freundlich zu lösen.
Natürlich kommen wir für den vollen Schaden auf. Aha, es ist nicht das allerneueste Modell, aber angeblich Anfang des Jahres gekauft. Wie geht es dem Mädchen? Es musste nach langem Heulen mit Bauchweh nach Hause gebracht werden…
So langsam ist die Wut auf meinen Sohn verflogen, denn er hat schließlich nicht absichtlich das iPhone dieses Mädchens zerstört und beim Sprechen mit dem Vater bekomme ich allmählich das Gefühl, mein Sohn hätte die Oma des Mädchens getötet oder irgendetwas anderes Unverzeihliches getan, was dieses arme Mädchen für alle Zeiten traumatisieren wird.
Um den Vater zu besänftigen, sage ich etwas im Sinne, dass die Jugendlichen lernen müssen, ihre Impulse zu kontrollieren. Daraufhin kann er es sich nicht nehmen lassen, mir eine kleine Moralpredigt zu diesem Thema zu halten. Mein Sohn, der sich ebenfalls telefonisch bei dem Vater entschuldigt, muss sich gefühlte 10 Minuten Vorwürfe anhören. Leo schaut hilfesuchend zu mir, inzwischen hat sich meine Wut in Mitgefühl verwandelt. Mitgefühl mit Leo, Mitgefühl mit mir.
Da der Vater mir eine Kaufquittung ohne Datum zuschickt, werde ich das Gefühl nicht los, dass das Handy wesentlich älter ist, als er behauptet.
Auch wir Eltern sagen nicht immer die Wahrheit
Mein Sohn bekommt Hintergrundinfos von der besten Freundin des Mädchens: Das Handy sei dem Mädchen vor einem Jahr geschenkt worden und da war es bereits abgelegt vom Vater. Ich spüre Wut in mir aufsteigen.
Oh ja, auch wir Eltern sind nicht immer die besten Vorbilder! Ich mache den Mann freundlich auf seinen Irrtum aufmerksam und dieser hat viele Ausreden parat, aber alles worauf er seine Argumentation stützt ist: die emotionale Belastung der Tochter!
Wenn die Erfahrung mit dem kaputten Handy bereits das Potenzial hat zu einem traumatischen Erlebnis für das arme Mädchen zu werden, dann hat sie es wirklich schwer. Ich verkneife mir die Bemerkung vor dem Vater. Diese Art von Vätern sind in der Lage die Polizei einzuschalten und meinem Sohn noch ganz andere Delikte vorzuwerfen, also überweise ich das Geld von Leos Sparkonto und sage nichts mehr.
Später erfahren wir, dass das Mädchen sowieso zu Weihnachten ein neues Handy bekommen sollte. Einen großen Teil davon haben wir jetzt also bezahlt. Wer hätte gedacht, dass mein Sohn mit einem wütenden Jackenschlag auf den Tisch einem belgischen Vater diesen enormen Gefallen tun würde? Das ist dann wohl unsere gute Tat zu Weihnachten!
Max, die Wutpuppe
Zu dieser Geschichte fällt mir ein, dass Leo als er noch ganz klein war eine riesengroße Handpuppe bekommen hat. Eine rothaarige weiche Stoffpuppe, in die man die Hände steckt und dann Mund und Arme von innen bewegen kann. Der große Stoffpuppenjunge wurde von uns Max getauft. Max war so groß wie mein Sohn und anstatt sich zu freuen, hatte Leo Angst vor der Puppe. Anfangs ignorierte mein Sohn die Handpuppe, was bei dessen enormer Größe nicht einfach war.
Eines Tages kam ich in Leos Kinderzimmer und Max saß auf dem Kinderstuhl, gefesselt mit dem Springseil. Da diese Puppe aussah wie ein kleiner Junge aus Stoff, war ich drauf und dran meinem Sohn zu erklären, vorsichtiger mit Max zu sein, entschied mich aber dann doch dazu, das Ganze erstmal weiter zu beobachten.
Wir hatten damals eine schwere Zeit. Leos Vater und ich hatten uns getrennt und dieser war ausgezogen. Wir alle waren traurig und wütend. Leo zeigte nicht viel von seinen Emotionen, in der Vorschule und mit Freunden war er ausgeglichen und fröhlich wie immer. Nur bei mir gab es ab und zu mal ein Zeichen kindlicher Wut. Meine Haltung dazu war klar: Wut ist ok, Mama weh tun nicht! Wenn du Wut hast, hau das Kissen oder schmeiß es durchs Zimmer, oder…
Max! Oh ja, hier kam Max ins Spiel. Max war als freundlicher Spielkamerad schon lange für Leo ausgeschieden. Leo brauchte ein Objekt, an dem er seine aufgestaute Wut und Frustration auslassen konnte. Ich wollte dieses Wutobjekt nicht sein. Auch für mich war die Idee verlockend, einen Gegenstand zu haben, den ich in Notfällen mal gegen eine Wand werfen konnte. Wir erklärten Max also offiziell zur Wutpuppe!
Max durfte jetzt ohne schlechtes Gewissen gefesselt, geboxt und durchs Zimmer geschmissen werden, sobald Leo wütend war. Es war wie eine Erleichterung für uns beide. Ich hatte keine Bedenken mehr, wenn ich Max gefesselt bei Leo fand und er hatte ein Ventil für seine Wut und Trauer gefunden. Wir schmissen Max durchs Zimmer und oft verwandelte sich die Wut in Lachanfälle, weil Max dabei einfach nur komisch aussah! Manchmal habe ich mich alleine in Leos Zimmer geschlichen und Max in eine Zimmerecke gepfeffert. Das tat gut!
Irgendwann als Max inzwischen nur noch ein Knopfauge hatte und auch die Schuhe nicht mehr auffindbar waren, wurde er nicht mehr gebraucht. Vermutlich war er das wichtigste Spielzeug, was mein Sohn je hatte.
Keine Literatur zum Thema belgische Väter
Was könnte also heute für einen wütenden 14-jährigen der Ersatz für eine Wutpuppe sein? Ein Boxsack vielleicht? Der wäre natürlich auch nicht immer sofort zur Hand, wenn es einen Konflikt mit einem Freund gibt. Also dann doch erstmal bis 10 zählen, tief durchatmen und nachdenken, bevor man irgendwen mit irgendetwas haut. Was können wir sonst aus dieser Geschichte lernen? Vorsicht mit belgischen Vätern! Das ist aber vermutlich wieder einmal eine dieser Verallgemeinerungen, die nicht wirklich wissenschaftlich belegt sind. Vielleicht ist Belgien sogar ein Land mit extrem vielen freundlichen Vätern. Literatur zu dem Thema habe ich keine gefunden.
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