Eine Stofftasche vom „Primavera-Sound-Festival“ liegt auf dem Boden und ich denke mit Herzklopfen an den letzten Sonntag. „Primavera-Sound“ ist ein Musikfestival in Barcelona. Dabei treffen sich Tausende von jungen Menschen über mehrere Tage zu Livekonzerten vom frühen Abend bis zum nächsten Morgen. Mein Sohn Leo und noch ein Kumpel hatten das große Glück von einem Freund, der inzwischen in London lebt, Freikarten zu bekommen.
Leos erstes Musikfestival mit 2 Freunden
Am 2. Festivaltag kommen alle 3 zum Schlafen zu uns und ich habe mich gefreut, mit den Jungs mittags zu brunchen. Ich kenne beide aus der Grundschulzeit und es ist immer schön zu sehen und zu hören, was aus den kleinen Jungs von damals inzwischen geworden ist. Das ist der Vorteil von den Freunden Leos, die ich von früher kenne: Sie haben Lust, mich zu begrüßen und es ist meinem Sohn nicht so peinlich wie bei den neuen Freunden. Diese kommen kaum zu uns nach Hause und wenn, werden sie undercover direkt in Leos Zimmer geschleust. Sie sehen mich nur, wenn ich zufällig gerade im Eingang stehe, oder mich vor die Haustür lege, damit sie über mich stolpern, wenn Sie hereinkommen.
Jede Festivalnacht kommen sie später nach Hause und für die letzte Nacht hat mein Sohn bereits angekündigt, sie würden die Nacht durchmachen und morgens erst so um 9.00 nach Hause kommen. Das Festival ist direkt am Meer und sie wollen sich den Sonnenaufgang zusammen angucken. Ich kann mir gut vorstellen, dass die 3 große Lust haben, ihre gemeinsame Zeit maximal auszunutzen, also ist das ok für mich. Meine Bedingungen sind: „Sei erreichbar und bleibt zusammen.“ Diesmal wollte Leo bei uns übernachten und die anderen beiden bei dem Freund.
Mein Sohn kommt nicht nach Hause
Sonntagmorgen gegen 9.00 Uhr ist es hier bereits sehr sonnig und ich will kurz im Meer schwimmen gehen. Ich schicke eine Nachricht an Leo, ob er gleich nach Hause käme. Keine Antwort. Um 9.30 habe ich immer noch nichts von Leo gehört. Ok, das mit der Erreichbarkeit hat nicht geklappt, ich bleibe ruhig und denke, dass er keine Batterie mehr auf dem Handy hat. Die Mutter von Igor ist mit mir befreundet und ich schicke ihr eine kurze Nachricht: „Weißt du etwas von den Jungs? Kann Leo nicht erreichen.“
Ihre Antwort: „Igor und Sam sind seit 2 Stunden hier und schlafen tief und fest.“
Ich fange an, nervös zu werden, habe aber immer noch die Hoffnung, Leo hat ein Mädchen kennengelernt oder andere Freunde getroffen und jeden Moment geht der Schlüssel im Schloss.
Meine Freundin, ebenfalls beunruhigt, weckt die Jungs, um zu fragen, wann sie Leo zuletzt gesehen haben. Einer, der beiden sagt, sie seien zusammen mit der U-Bahn zurückgefahren. Mit dieser Information war mein Sorgenbarometer aufs Maximum gestiegen. Die U-Bahn ist direkt neben unserem Haus und wenn Leo vor 2 Stunden dort angekommen war, musste ihm etwas passiert sein auf diesem kurzen Weg. Ich laufe aus dem Haus zur U-Bahn, in der Hoffnung mein Sohn ist in einem Hauseingang eingeschlafen. Nichts!
Anruf bei der Polizei
Es ist inzwischen 10.00 und ich rufe eine Notrufnummer an, denen ich die Situation schildere. Sie wollen eine Personenbeschreibung und die Information an die Polizei weitergeben. Meine Knie sind weich wie Butter und ich gehe direkt weiter in Richtung Krankenhaus. Leo ist vermutlich in eine Schlägerei geraten und in das Krankenhaus um die Ecke eingeliefert. Meine Freundin ruft mich an, sie sei bereits mit dem Fahrrad auf dem Weg zu mir. Leo hatte schon die eine oder andere Dummheit begangen, aber er war zuverlässig mit den Absprachen und das Ganze fängt an, mich sehr zu beunruhigen.
Mit einem tiefen Atemzug und der Bitte ans Universum, dass Leo nichts Schlimmes passiert sei, trete ich ins Krankenhaus ein. Dann die Handynachricht. Ich schaue auf mein Display und kann meinen Augen nicht trauen.
Das ist nicht dein Ernst!
Leo: „Bin zu Hause. Geh jetzt schlafen.“
Erleichterung mischt sich mit Wut. Mein Sohn ist unversehrt und offensichtlich ist er sich keinerlei Schuld bewusst. Ich rufe ihn an.
„Was is?“ Fragt er verschlafen.
„Was ist? Ich versuche seit einer Stunde, dich zu erreichen, deine Freunde sind längst zu Hause, was ist verdammt nochmal passiert?“
„Nichts.“ Antwortet mein Sohn. Vor Wut fange ich an zu rennen. „Ich bin gleich zu Hause und da erklärst du mir bitte, was los war, ich habe bereits die Polizei benachrichtigt und stehe im Eingang vom Krankenhaus, um nach dir zu fragen.“ Stille am anderen Ende. Entweder meine Wut ist angekommen und er hat angemessene Schuldgefühle, oder er ist eingeschlafen.
Ich rufe bei der Polizei an, mein Sohn sei wieder aufgetaucht. Zu Hause angekommen, treffe ich Leo im Liegen auf seinem Bett an, er sieht ziemlich mitgenommen aus. Das liegt vermutlich daran, dass er seit 3 Nächten kaum geschlafen hat.
„Leo, was ist auf dem Weg von der U-Bahn neben unserem Haus bis zu uns passiert, das über 2 Stunden gedauert hat?“
Ein Nickerchen auf einer Bank
Verständnislos schaut er mich an und versichert mir, er sei gar nicht mit den Jungs in der U-Bahn mitgefahren, er habe sie nur bis zur U-Bahn-Station in Festivalnähe begleitet. Dann sei er zu Fuß am Strand entlang gegangen.
„Dafür hast du dann 2 ½ Stunden gebraucht?“ Frage ich ihn.
„Nee, erst musste ich nochmal in einer Bar auf die Toilette und dann bin ich langsam gegangen und habe ab und zu eine Pause auf einer Bank gemacht. Auf einer bin ich dann wohl eingeschlafen…“
Ich fasse es nicht! Ich drehe am Rad und mein Sohn schläft sonntagmorgens um 9.00 auf einer Bank am Strand! Die Geschichte ist so absurd, dass sie vermutlich stimmt. Das Handy hatte keine Batterie mehr und sich von den anderen morgens zu trennen kam ihm in dem Moment auch nicht dramatisch vor. Immerhin war es hell, die ersten Strandbesucher und Jogger waren bereits unterwegs.
Alles nachvollziehbar, und eine kleine Nachricht hätte mir gereicht, um mir keine Sorgen zu machen. Normalerweise bin ich kein Fan von Hausarresten oder anderen „Strafen“. Spontan habe ich Leo diesmal für das nächste Wochenende das Ausgehen verboten, weil ich irgendwie das Gefühl habe, ich muss Grenzen setzen. Er erinnert sich dann vielleicht beim nächsten Mal besser an unsere Absprachen. Mein Vertrauen in ihn braucht auch erstmal ein paar Tage Zeit, um sich wieder zu erholen. Denn was kann ich bei einem 17-Jährigen sonst machen als immer wieder darauf vertrauen, dass alles gut geht? Das geht dann eine Weile gut, bis es mal nicht gut geht. Abends ruft mich meine Freundin an und erzählt mir, ihr Sohn und der Freund konnten sich nicht mehr daran erinnern, dass sie morgens von ihr geweckt und befragt wurden. Damit war dann auch die falsche Information erklärt, die meine Sorge noch vergrößert hat.
Wenn Leo diese Geschichte erzählen würde, wäre sie vermutlich sehr kurz:
„Ich bin zu Fuß vom Festival gekommen, weil mir die U-Bahn zu voll war. Ich war echt schlapp und habe Pausen gemacht. Bei einer Pause bin ich eingeschlafen. Ist dann ein bisschen später geworden und meine Mutter war voll sauer. Scheiße, kann nächstes Wochenende nicht ausgehen!“
Schreibe eine Antwort