Dezember 2020: Ein ganz gewöhnlicher Freitagabend, mein Sohn ist von der Musicalchorprobe zurück, es gibt Pizza und zum Entspannen gucken wir noch eine Serie. Ein Wochenende liegt vor mir und ich gönne mir ein Glas Rotwein. Kerzen brennen zwischen ein paar Fichtenzweigen, es ist Vorweihnachtszeit und alles ist gut.
Eine unangenehme Nachricht: mein Sohn stört bei den Chorproben
Dummerweise ist mein Handy noch nicht leise gestellt und ich kann es nicht lassen, meine Nachrichten zu checken. Leos Chorleiterin schreibt mir und ich merke sofort, ihr Ton ist ernst. Sie sagt, mein Sohn störe trotz ständigem Ermahnen in den Chorproben, rede dauernd dazwischen und mache ein konzentriertes Proben unmöglich. Da der Chor momentan mit einem Theaterensemble und professionellen Choreografen eine aufwendige Weihnachtsaufführung einübt, könne sie dieses Verhalten nicht tolerieren.
Entweder schaffe er es, seine Haltung zum Chor zu ändern oder er müsse darüber nachdenken den Chor zu verlassen. Sie wende sich an mich mit der bitte, mit Leo zu sprechen. Ich merke, wie mein Herz schneller schlägt, eine Welle der Angst überkommt mich. „Den Chor verlassen“ ist das Echo, was in meinem Kopf übrigbleibt. Der Chor probt gerade die Weihnachtsgeschichte von Dickens und ich weiß seit einiger Zeit, dass mein Sohn das ganze ziemlich infantil findet und Horror davor hat, bei den vielen Aufführungen mitten im Stadtzentrum von einem seiner Kumpels erkannt zu werden. Zu allem Übel müssen die jugendlichen Sänger auch noch eine Art Kutte tragen, die mein Sohn ebenfalls vollständig lächerlich findet.
Leo gibt zu, dass er manchmal ein bisschen stört, aber als geschulter Jugendlicher sagt er auch, er würde oft zu Unrecht beschuldigt, wenn seine Freunde quatschen und er nicht. Tatsächlich ist es nicht immer von Vorteil fast 2m groß zu sein und eine unglaublich laute und tiefe Stimme zu haben. Wenn also ein kleiner Freund von Leo leise lustige Dinge zu ihm sagt, braucht er nur kurz und laut zu antworten und es wird immer er sein, der auffällt. Als erfahrene Mama von meinem Sohn bin ich trotzdem überzeugt, dass er von zehn Ermahnungen sicher auch bei mindestens acht zu Recht ermahnt wird.
Es liegt nicht mehr in meiner Hand
Ich sage ihm, dass ich sein Verhalten respektlos finde gegenüber den vielen Menschen, die extrem viel Energie in dieses Projekt stecken. Er entgegnet, das sei ihm egal und dann die Bombe: er habe sowieso keine Lust, das Repertoire was sie singen sei furchtbar und er würde darüber nachdenken aufzuhören.
Wieder rutscht mir das Herz in die Hose und ich versuche erstmal die Ruhe zu bewahren. Ich sage ihm, dass wir am nächsten Tag in Ruhe darüber reden und dann entscheiden, wie es weiter geht.
Leo sagt noch:
- „Das entscheiden nicht wir, das entscheide ich!“
Es stimmt, was er sagt und trotzdem muss ich diesen Satz erstmal verdauen. Leo ist 15 Jahre alt und ich bin nicht mehr die Mama, die aussucht, welchen Freizeitaktivitäten mein Sohn nachgeht. Ich schlafe kaum in dieser Nacht und frage mich, was es eigentlich ist, was mich so angreift? Seit ein paar Jahren singt mein Sohn in diesem wunderbaren Chor und vor Corona gab es Zeiten, in denen jedes zweite Wochenende ein Chorkonzert stattfand. Ich habe fast keines davon verpasst und oft habe ich mich hinter der Person vor mir versteckt, weil ich weinen musste vor Glück. Mein großer Junge in diesem wunderbaren Chor, seine Stimme immer für mich erkennbar. Das eine oder andere Solo hat er auch gesungen kraftvoll und schön. Die Konzerte sind für mich die Verbindung mit allen guten Seiten meines Sohnes.
Auch die Chorleitung war immer begeistert von Leos Stimme, anscheinend hat sich aber etwas geändert an seiner Haltung und seinem Interesse.
Es ist noch nichts entschieden und ich merke, ich selber muss anfangen loszulassen. Loslassen von der Idee, was für meinen Sohn am besten ist und was ich mir für seine ideale Entwicklung wünsche. Es ist nicht das erste Mal, dass Leo eine Freizeitaktivität aufhören will, aber diesmal fühlt es sich anders an. Ich bin darin verwickelt und möchte alles, was in meiner Hand liegt dafür tun, dass er dabei bleibt. Weil es das beste für ihn ist. Oder für mich?
Gibt es überhaupt „falsche Entscheidungen“ in der Entwicklung eines Jugendlichen?
Gedanklich spiele ich die Möglichkeit durch wie es wohl wäre, wenn ein Kind gesegnet mit Talenten, nichts davon nutzt und alles, was Eltern für sinnvoll und gut halten ablehnt. Brutal, aber ein möglicher Weg. Und: die Entscheidung des Jugendlichen.
Sich gegen etwas zu entscheiden, was das Umfeld als wunderbar empfindet, ist eine Möglichkeit. Mit 15 hat Leo auch das Recht, sich falsch zu entscheiden und das Jahre später zu merken, selbst das könnte ein wichtiger Lernprozess für ihn sein. Und ich steh einfach nur daneben, sage meine Meinung und beobachte. Wow, wie schwierig ist das denn? Meinen Sohn begleiten und seinen Weg akzeptieren. Es ist nur ein schmaler Grad zwischen „ich will nur das Beste für meinen Sohn“ oder „ich will, dass mein Sohn sich für Dinge entscheidet, die mich glücklich machen“.
Der Deal
Am nächsten Tag schaffen wir es, in Ruhe zu reden. Ich habe mich innerlich auf das Schlimmste eingestellt, will aber noch etwas ausprobieren.
- Leo, gibt es etwas, was dich motivieren könnte, wenigstens die nächsten Wochen weiterzumachen und aufmerksam bei den Proben mitzumachen?
- Gib mir 200 Euro und ich mach weiter!
Tja, das war zu erwarten, aber das war auch mir zu krass, so erzieht man vermutlich direkt einen Drogenabhängigen.
- So habe ich das nicht gemeint, ich meine irgendetwas Realistisches, was dich motiviert und dir hilft aufmerksam zu bleiben.
- Lass mich Freitagabends nach den Chorproben mit der Playstation spielen so lange ich will.
Oh, das war ja einfacher als gedacht…
- Und das würde tatsächlich deine Haltung zum Chor so ändern, dass du es schaffst mitzumachen und nicht dauernd zu reden?
- Ja. Nach der Aufführung will ich aber wissen, wie es weitergeht und wenn das neue Repertoire immer noch so ein Kinderkram ist, dann höre ich auf.
Ich bin einverstanden und wir haben einen Deal. Verrückterweise war es einfacher als gedacht und ich habe das große Glück, dass er vorerst so entschieden hat, wie ich es mir gewünscht habe. Trotzdem spüre ich ganz deutlich, dass nach und nach eine neue Zeit beginnt. Mein Junge wird groß und trifft seine eigenen Entscheidungen und ich verabschiede mich innerlich Schritt für Schritt von meinen Projekten für ihn. Es sind jetzt seine und er sucht sie aus.
Schlaflose Nächte
Bereits als kleiner Junge konnte man gut mit Leo verhandeln. Wenn er mit 4 Jahren nachts in seinem Bett aufwachte und ich ihn auf die Toilette begleitet hatte, ging er meist völlig verschlafen zielsicher links vom Flur in das Elternschlafzimmer (muss ich dazu jetzt Ex-Elternschlafzimmer sagen?), um im großen Elternbett weiterzuschlafen. Der Weg von der Toilette über den Flur in sein Zimmer, bog rechts vom Flur ab. Ich konnte trotz großem Bett zu dritt leider nicht wirklich bequem weiterschlafen, während mein Sohn alle Viere von sich streckte, um geräuschvoll im Duett mit meinem Ex-Ehemann in dem Ex-Elternschlafzimmer tief und gut zu schlafen.
Der Sugusbonbondeal funktioniert!
Dann hatte ich eine Idee: was könnte meinen Sohn nach dem nächtlichen Toilettengang dazu bringen rechts abzubiegen und in seinem Bett weiterzuschlafen? Das Versprechen, ihm am nächsten Tag ein Sugusbonbon zu schenken!
Ja, ich weiß, mit Belohnung dieser Art zu arbeiten erinnert eher an die Leckerli bei der Hundeerziehung. Nach 4 Jahren chronischem Schlafmangel hätte ich ihm allerdings vermutlich auch ein Hundeleckerli angeboten, wenn mir jemand gesagt hätte, das würde helfen, damit Leo in seinem Bett schläft!
Am nächsten Tag habe ich Leo das neue Sugusbonbon Belohnungssystem erklärt, und war gespannt, wie die Nacht sich nun entwickeln würde.
- Mamaaaaa, ich muss mal Pipiiiiiii!
Klang es wie gewohnt aus seinem Zimmer. Ich stand auf… Warum stand ich eigentlich immer auf in dieser Zeit? Was machte denn der Ex-Ehemann im Ex-Elternschlafzimmer? Er schlief und vermutlich war sein Argument nicht aufzustehen, dass er seinen Sohn nicht höre. Ein Muttergehör kann in der Babybetreuungszeit alles hören. Ein Windstoß lässt eine Staubflocke am anderen Ende der Wohnung auf den Boden gleiten und ich höre es selbst heute noch und werde davon wach. Eine Mutter mit einem Baby wird nicht nur davon wach, sondern springt aus dem Bett und ist in weniger als 2 Sekunden am Ort des Geschehens.
Zurück zur ersten Nacht mit dem versprochenen Sugus.
Ich ging mit meinem Sohn auf die Toilette. Licht an Pippi machen, Licht aus. Mein Sohn trottet verschlafen durch den Flur und will wie gewohnt links abbiegen, dann sage ich das Zauberwort:
- Sugusbonbon! Leo, wenn du es schaffst in deinem Bett weiterzuschlafen, bekommst du morgen eins.
Ich sehe wie es unter seinem verwuschelten Lockenkopf anfängt zu arbeiten. Er steht an einer wichtigen Wegbiegung und weiß: links lockt das kuschelig warme und monsterfreie Elternbett, rechts sein Bettchen im Kinderzimmer, ganz alleine, aber dafür mit der Aussicht auf ein wunderbar süßes und klebriges Bonbon am nächsten Tag. Kirsche, Ananas, Erdbeere, Zitrone oder Orange, mmmmmhhhh köstlich!
Ich stehe daneben und warte. Ohne auch nur ein Wort der Erklärung biegt Leo rechts in sein Zimmer ab. Das ist mein Sohn!
Dieses Ritual haben wir dann noch ein paar Tage so weitergemacht und selten gab es eine Nacht, in der er links abgebogen ist. Nach einer Woche war er es so gewohnt, nach dem nächtlichen Toilettengang wieder in seinem Zimmer weiterzuschlafen, dass ich die Sugusbonbons wieder weglassen konnte!
Irgendwie war es damals schon wichtig, dass ich ihm die Entscheidung überlassen habe.
Natürlich gab es noch viele Nächte mit Ohrenschmerzen und Alpträumen, in denen Leo mit in unserem Ex-Elternehebett geschlafen hat, aber immerhin waren das dann die Ausnahmen.
Loslassen und durchatmen
Die „Freitag-Playstation-Open-End-Nacht“ ist insofern anders als das damalige Sugusbonbon, weil Leo jetzt ganz genau weiß, dass ich versuche, ihm einen Zusatzanreiz zu bieten als Motivation bei den intensiven Chorproben konzentriert durchzuhalten. Die Karten liegen klar auf dem Tisch und er kann jederzeit eine andere Entscheidung treffen. Bei dem kleinen Leo war mein Ziel sehr klar und seine „freie Entscheidung“ vielleicht ein bisschen manipuliert von meiner Seite. Ob es eine gute Idee ist, mit solchen Belohnungsmethoden zu arbeiten, mag dahingestellt. Ich denke aber, mein Sohn hat ein Recht darauf, später mit seinen Freunden, seiner Partnerin oder seinem Psychologen darüber zu reden, was seine Eltern damals alles falsch gemacht haben.
Irgendwie stehe ich wie damals im Flur jetzt wieder mit meinem Sohn vor einer Weggabelung. Hinter uns der gemeinsame Weg der letzten Jahre und jetzt der langsame Übergang in seine Autonomie. Er wird neue Wege einschlagen und ich vermutlich auch. Mal sehen, wie es so klappt bei mir, mich nach und nach aus den Entscheidungen meines Sohnes herauszuhalten und zu beobachten. Auszuhalten, wenn ich nicht gut finde, was er entscheidet und trotzdem nicht daran zu verzweifeln.
Loslassen und durchatmen mit dem Vertrauen, dass es gut wird, egal wie.
Edgar
Liebe Stefanie, ich glaube, dass viele Leser /innen dieser Geschichte ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Das tut gut zu wissen, wie vielfältig das Elternsein ist. Tipps sind immer willkommen. Nach dem Frühstück Deine Geschichten zu lesen macht mir Lust auf Neues. Danke!
Stefanie Pfeil
Vielen Dank, Edgar! Das Schreiben der Geschichten hilft mir auch, die Gedanken zu ordnen und eure Kommentare dazu sind für mich sehr interessant.