Ein Freund von meinem Sohn hat Geburtstag und dieser hat Leo und zwei andere Jungs eingeladen, um abends in einer Bar zu feiern. Da alle 4 Jungs unter akuter Geldknappheit leiden, kaufen sie sich vorher Getränke im Supermarkt. Später gehen sie dann in diese Kneipe, wo man Tischfußball und Billard spielen und andere Jugendliche kennenlernen kann.
Leo und sein Freund haben sich Bier gekauft, ein anderer Junge, der bisher nicht oft Alkohol getrunken hat, kauft sich Wodka. Aufmerksame erwachsene Leser*innen denken jetzt: „Oh, oh, ob das mal gutgeht…“
Das ist ein Teil der Geschichte, die ich hinterher von Leo erzählt bekomme, meine Situation als Mutter ist folgende:
Beunruhigende Nachrichten um 4.00 nachts
Ich bin abends seit langer Zeit mal wieder mit Freunden ins Theater gegangen. Ein modernes Stück mit sehr guten Schauspielern und einer ziemlich deprimierenden Thematik: Die Schuldgefühle eines Überlebenden bei einem Hausbrand gegenüber den verstorbenen Freunden. Einer meiner Lieblingsschauspieler spielt mit und wie immer, spielt er fantastisch! Um uns nach diesem schweren Stück etwas aufzumuntern, gehen wir danach noch etwas trinken, es ist 24.00 und immer noch 30 Grad heiß.
Ziemlich spät komme ich nach Hause und gehe schlafen. Gegen 4.00 wache ich auf und merke, dass Leo noch nicht da ist. Auf meinem Handy sind mehrere Nachrichten von Leo:
„Mama, Diego hat zu viel getrunken. Der trinkt sonst nicht.“
„Ich bleibe noch hier, bis der Krankenwagen kommt.“
„Wir begleiten ihn ins Krankenhaus, mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut.“
Ich bin hellwach, wie Krankenhaus, was ist passiert?
Ich rufe Leo an und er gibt mir die Kurzversion: „Diego habe eine Alkoholvergiftung und ist jetzt im Krankenhaus. Leo warte dort noch mit Joan auf Diegos Mutter. Joans Vater holt sie dann ab und bringt beide nach Hause.“
Mein Sohn klingt normal, er kann ganze Sätze sprechen und es scheint ihm gutzugehen. Diego kenne ich nicht, er ist noch nicht so lange mit Leo befreundet.
Meine Nacht ist vorbei, ich warte auf Leo und meine Gedanken kreisen um das Thema Alkoholkonsum Leos und seiner Freunde. Als er nach Hause kommt, ist es inzwischen 5.00 morgens, er ist schuldbewusst und tatsächlich nicht betrunken. Ich begrüße ihn kurz und frage, ob alles ok ist. Er bejaht und wir verabreden am nächsten Tag zu reden. Ein paar Stunden später sitzen wir zusammen auf dem Sofa.
Alkoholexzess und Krankenwagen
Tatsächlich hatte Diego zu viel Wodka auf einmal getrunken und plötzlich ging es ihm so schlecht, dass er sich übergeben musste und nicht mehr ansprechbar war. Die Jungs haben ihn dann auf den Boden in die stabile Seitenlage gelegt. Als es nicht besser wurde, haben sie den Krankenwagen gerufen. Laufen konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Oh je wie krass! Der Krankenwagen hat dann auch noch über eine Stunde gebraucht, denn Samstagnacht ist hier in Barcelona sehr viel los.
Joan hat Diego im Krankenwagen begleitet und Leo ist mit dem Fahrrad zum Krankenhaus gefahren. Die Telefonnummer von Diegos Mama haben sie über den Instagram Account der Schwester erfahren. Na da hat ja tatsächlich mal ein soziales Netzwerk Sinn gemacht!
Der Vater von Joan, der die Jungs abgeholt hat, hat mir hinterher erzählt, dass die beiden Jungs vorbildlich gehandelt haben. Die Mutter von Diego, die irgendwann voller Sorge ins Krankenhaus kam, war sehr froh, dass ihr Sohn in keinem Moment alleine gelassen wurde.
Strafe für Leo?
Bevor ich diese Information hatte, war ich kurz davor, über mögliche Einschränkungen für Leo nachzudenken. Irgendeine erzieherische Maßnahme, die deutlich macht, dass die Jungs eine Grenze überschritten haben und dass zu viel Alkohol richtig gefährlich werden kann.
Je mehr ich darüber nachdenke, merke ich allerdings, dass es vermutlich meine Sanktionen gar nicht mehr braucht. Leo und Joan haben die halbe Nacht damit verbracht, Diego zu versorgen und haben das ganze Elend mit all seinen Folgen miterlebt. Bereits um 6.00 morgens hatten wir die Nachricht, Diego ginge es gut und er würde nach Hause entlassen. Verrückterweise hatte er „nur“ 1 Promille im Blut, was bei vielen Menschen nicht so eine extreme Reaktion auslösen würde.
Wieviel Verantwortung haben Freunde, wenn ein Kumpel zu viel trinkt? Hätte es etwas genützt, wenn Leo und Joan früher gesagt hätten: „Diego, es reicht jetzt.“ Oder: „Kauf dir lieber Bier und nicht gleich Wodka!“
Vermutlich hätte es nichts genützt, denn die meisten von uns lernen das, was wir am eigenen Körper erfahren am besten.
Ein bisschen Glück und gutes Schlamasselmanagement
Leo und Joan haben als Freunde von Diego alles richtig gemacht, sie sind bei ihm geblieben und haben die richtigen Entscheidungen getroffen. Sie haben sich der Verantwortung gestellt und das alleine, ohne Hilfe ihrer Eltern. Auf diesen Part bin ich stolz, je mehr ich darüber nachdenke. Werde ich als Mutter einen 17-Jährigen vor schwierigen Erfahrungen bewahren können? Werden meine gutgemeinten Ratschläge Leo helfen, immer gute Entscheidungen zu treffen? Ich vermute: nein.
Er wird Dinge ausprobieren, die schiefgehen und für ihn wird es noch viele erste Male geben. Er wird umgeben sein von Freunden, die ebenfalls nicht immer die besten Entscheidungen treffen. Was ist wichtig in diesem Wirrwarr der Erfahrungen, Gefahren und Abenteuern, die auf meinen Sohn warten?
Ich glaube, das Glück spielt eine große Rolle.
Das wünsche ich Leo, seinen Freunden und allen anderen Jugendlichen auch: Glück haben trotz so mancher unguten Entscheidung! Außerdem ist es wichtig, mit Schlamassel klarzukommen, also sozusagen das Schlamasselmanagment soweit möglich selber in die Hand zu nehmen. Zu merken, ab wann ein Erlebnis nicht mehr spaßig ist und reagieren. Wenn nötig, Hilfe suchen. Na und das hat doch diesmal wunderbar geklappt! Ich habe einen Sohn, der immer mal wieder in Schlamassel gerät und vermutlich geraten wird. Bei diesem letzten Schlamassel haben er und seine Freunde beides gehabt: eine große Portion Glück, dass Diego innerhalb kürzester Zeit wieder fit war und ein gutes Schlamasselmanagement.
Ich kann mich also vorerst entspannen und zuversichtlich und voller Vertrauen in die Zukunft blicken.
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