Seit 26 Jahren lebe ich in Barcelona, genau die Hälfte meines Lebens, wow! Sozialisiert wurde ich in meiner Kindheit und Jugend in good old Germany. Was heißt das eigentlich? Wird man im Erwachsenenalter nicht mehr sozialisiert? Sozialisieren bedeutet, sich den Werten und Gegebenheiten eines bestehenden Wertesystems anzupassen, bzw. zu lernen, sich darin zu bewegen. Nach dem Umzug in ein anderes Land muss man sich auch als Erwachsene wieder neu orientieren. In einer Autowerkstatt würde man nachjustieren, soweit das möglich ist. Hier in Barcelona habe ich mich vermutlich im Laufe der Jahre meinem Umfeld angepasst, innerhalb meiner Möglichkeiten.
Der Unterschied zwischen deutschen und spanischen Lesern
Meinen Rucksack hatte ich allerdings bereits dabei, mit einem Cocktail von dem, was ich in meiner Familie und in meinem größeren Umfeld gelernt habe. Dann ist da bestimmt auch noch eine Prise Genetik mit dabei und voilà, mit diesem Päckchen laufe ich jetzt durch die Gegend. Bestimmt habe ich ein paar Sachen rausgeschmissen und andere im Laufe des Lebens dazu gepackt, aber es gibt eine gewisse Grundausstattung, die mich begleitet.
Ein Teil dieser Grundausstattung ist es, alles möglichst direkt zu sagen. Ich befürchte, das ist nicht nur familiär, sondern auch sehr deutsch.
Bei einer Autorenlesung hier in Barcelona sagte eine Autorin auf die Frage des Unterschieds ihrer spanischen und deutschen Leser/innen:
Wenn ich eine Mail von einem spanischen Leser und Fan meiner Bücher bekomme, der einen Fehler in meinem Buch entdeckt hat, schreibt dieser erstmal, dass er meine Bücher liebt und lobt in ein paar Sätzen meine Arbeit. Ganz am Ende der Mail sagt er dann, dass er einen kleinen Fehler in meinem Buch gefunden hat und verabschiedet sich dann freundlich.
Bei einer deutschen Leserin würde das anders aussehen. Erst verweist sie auf den Fehler und danach schreibt sie darüber, dass sie trotzdem ein großer Fan von den Büchern sei, um sich schließlich freundlich zu verabschieden.
Ich würde das vermutlich auch so machen und von außen betrachtet, ist mir das nicht wirklich sympathisch. Manchmal hat die große Direktheit auch mit fehlenden Filtern zu tun. Ein Gedanke, eine Idee und raus damit! Hier in Katalonien wird eher jongliert mit der Direktheit. Es gibt sie auch, aber sie ist irgendwie spielerischer und versteckter. Zum Glück habe ich viele Freunde in Barcelona, die mich seit vielen Jahren kennen und hinter meinen Direktheiten sehen, was da noch so alles los ist.
Gruppen und Männer
Wenn ich in Barcelona neu in eine Gruppe komme, merke ich ebenfalls, dass ich mit der Art wie ich auftrete und rede eingeordnet werde. Erstmal in die Abteilung „Organisierte Deutsche, die immer sagt, was sie denkt.“
Im Umgang mit Männern ist das mit der Direktheit von Frauen auch ein Thema. Oft hört man von Männern, sie freuen sich, wenn Frauen direkt sind. Das mag bei manchen Männern auch stimmen, ich kenne allerdings nicht sehr viele davon. Wenn du als Frau einen Mann noch nicht kennst und direkt bist, ist die Reaktion oft: Angst. Ich rede jetzt gar nicht von einer Direktheit, die einem die Schamröte ins Gesicht treibt, sondern von Sätzen wie:
„Wollen wir mal einen Kaffee zusammen trinken?“
Oder:
„Hast du Zeit, morgen zusammen an den Strand zu gehen?“
Konkrete Vorschläge, dazu noch mit genauer Zeitvorgabe, können manchmal bereits zu viel sein. Das Ganze in eine lange komplizierte Choreografie zu verpacken ist allerdings erlaubt. Das gleiche Ziel, aber ein anderer Weg, um dahin zu kommen. Diese Kunst werde ich vermutlich nicht mehr lernen. Dafür bin ich viel zu ungeduldig, ich denke sogar manchmal: Wen eine Frage nach einem Kaffee bereits erschreckt, ist vermutlich auch nicht die richtige Gesellschaft für mich.
Unter Frauen geht das besser. Ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die sich erschreckt hat, als ich sie fragte, ob wir einen Kaffee trinken gehen wollen.
Kultur beeinflusst Sprache
Als ich mit Ende 20 in Barcelona in einer Wohngemeinschaft mit Luis wohnte, hatten wir ein paar Tage eine junge Frau aus Japan zu Besuch. Wir sprachen Englisch miteinander und wenn es Verständigungsprobleme gab, lag das nicht an der Sprache. Einmal nahmen wir sie zum Strand mit und ich fragte sie, ob sie mit mir ins Wasser gehen wollte. Sie nickte und lächelte und blieb sitzen. Ich wartete auf meinem Handtuch und als sie keine Anstalten machte aufzustehen, fragte ich nach 5 Minuten nochmal:
„Kommst du mit ins Wasser?“
Sie nickte wieder und blieb sitzen.
Da es sehr heiß war und ich wie gesagt nicht der geduldigste Mensch auf Erden bin, ging ich erstmal alleine ins Wasser. Später habe ich sie gefragt, warum sie nicht mit ins Wasser gekommen sei. Sie sagte daraufhin, in Japan sei es sehr unfreundlich, nein zu sagen. Das Wort würde überhaupt kaum in der Sprache benutzt. Es gäbe allerdings Nuancen, die zeigen würden, dass man nein meint. Wenn also zwei Japaner am Strand liegen und einer nach der Einladung, mit ins Wasser zu gehen liegen bleibt, weiß der andere sofort, dass dieser nicht ins Wasser gehen möchte.
Ich bewundere es, wenn Menschen es schaffen ihre Inhalte wunderbar einzuleiten und diplomatisch auszudrücken. Ich habe ein bisschen dazugelernt, bin aber nach wie vor auf der Seite der sprachlich direkten Menschen.
Meine Freundin Sanaz hat mir erzählt, dass in ihrer persischen Kultur das gegenseitige zum Essen Einladen unter Freunden und in der Familie sehr viel Raum einnimmt. Dabei werden die schönsten Leckereien aufgetischt, bei denen mindestens noch 10 weitere Personen satt werden könnten. Ich bin selber bereits in den Genuss einer dieser wunderbaren Festessen gekommen, wie wunderbar! Falls es aber in seltenen Fällen dazu kommt, dass man eine Einladung ablehnen muss, ist das nicht so einfach. Es ist auch nicht einfach, jemanden nicht einzuladen, den man eigentlich einladen müsste. Dieses großzügige Einladen kann im Extremfall dazu führen, dass jemand einlädt, der dazu gerade gar keine Lust hat und jemand die Einladung annimmt, der ebenfalls keine Lust dazu hat.
Wie wirkt das wohl auf eine Japanerin oder einen Perser, einen Deutschen einzuladen, der kurz in seinen Kalender schaut und sagt: “Oh tut mir leid, da kann ich nicht.“
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