Obwohl ich inzwischen seit ein paar Jahren die routinierte Mutter eines Jugendlichen bin, gibt es immer noch Situationen, die mich verunsichern. Eine davon ist, wenn ich plötzlich völlig unerwartet meinen Sohn mit seinen Freunden auf der Straße treffe. Da ich inzwischen an den Zustand gewöhnt bin, meinem Sohn vor seinen Freunden peinlich zu sein, ist mein erster Impuls, mich schnell zu verstecken. Das finde ich aber ausgesprochen albern, so dass ich mich oft entschließe, meinem Sohn so ungezwungen und natürlich wie möglich zu begegnen.
Plötzliches Aufeinandertreffen
Vor kurzem komme ich am späteren Abend aus einem Kurs außerhalb unseres Wohnviertels. Ich verabschiede mich gerade von den anderen TeilnehmerInnen und sehe von Weitem eine Horde Jugendlicher heranschlendern. Es ist Dunkel und ich entdecke meinen Sohn inmitten dieser vielen großen Kerle. Auf spanisch gibt es einen Spruch für unangenehme Situationen, der: „Tierra tragame“ heißt und sinngemäß den Wunsch ausdrückt, von der Erde verschluckt zu werden. Ich wünsche mir das in dem Moment, denn ich bin es überhaupt nicht gewohnt, meinen Sohn in seinem Habitat zu treffen. Warum ist mir das unangenehm? Ich glaube, ich habe Bedenken, dass er gerade etwas macht, was ich lieber nicht sehen will und dass ihm das unglaublich unangenehm wäre.
Ich stelle mir all die vielen Dinge vor, die ich mit 16 umgeben von meinen Freunden und Freundinnen gemacht habe, wenn ich mich von meinen Eltern unbeobachtet gefühlt habe. Ich könnte zum Beispiel ungewollt Zeugin werden, wie Leo ein Mädchen aus der Gruppe küsst und dadurch mehr Information über sein Intimleben haben, als ihm lieb ist. Ich könnte ihn auch beim spanischen „Botellon“ erwischen, ich glaube das heisst in Deutschland „cornern“. Gemeint ist, wenn eine Gruppe von jungen Leuten sich zum Trinken auf der Straße trifft. Hier werden dafür meist die Flaschen in Papiertüten gewickelt, so dass man nicht gleich merkt, was in der Flasche drin ist. Ich könnte auch entdecken, dass mein Sohn Zigarren raucht oder was weiß ich noch alles!
Ich bin also in einer Situation, in der ich mich einerseits schnell verstecken möchte, andererseits würde ich auch gerne sehen, was diese Jungs so machen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Immerhin: Leo hat keine Flasche in einer Papiertüte und auch nichts in der Hand was qualmt. Ohne mich gesehen zu haben, gehen sie in eine Bar. Die Bar gehört einer sehr netten Asiatin, die uns während des Kurses mit gutem Kaffee und Frühstück versorgt hat. Was machen die großen Kerle in der Bar? Wollen sie sich betrinken? Nach ein paar Sekunden laufen sie alle wieder wild gestikulierend auf die Straße.
Ich habe mich inzwischen offensiv auf die Gruppe zu bewegt und endlich hat mich auch mein Sohn bemerkt.
„Alles ok, oder brauchst du Hilfe?“
Er ist so überrascht, dass er auf mich zukommt und mich kurz umarmt. Ich kann es kaum fassen: Eine Umarmung vor seinen Kumpels? Entweder ist das der Überraschungseffekt oder das Ergebnis, bereits vorher ausgiebig „gecornered“ zu haben. Sein ehemaliger Schulfreund, den ich von Früher kenne kommt kurz dazu, um mich zu begrüßen. Zwei große Jungs mit Sportkleidung und Baseballkappen auf dem Kopf stehen vor mir, während ich bereits auf meinem Fahrrad sitze, kurz davor, nach Hause zu fahren. Auf dem Bürgersteig im Rücken der beiden gehen ein paar Bekannte aus meinem Kurs vorbei. Einer davon gestikuliert auffällig in meine Richtung. An seiner Gestik und seinem besorgten Gesicht sehe ich: er fragt mich, ob alles in Ordnung sei oder ob ich evtl. Hilfe bräuchte.
Da erst klingelt es bei mir: Er hat die zwei Kerle vor mir nur von hinten gesehen und gedacht, ich werde gerade überfallen! Ich rufe ihm zu, es sei alles in Ordnung und das sei nur mein Sohn. Wie krass ist das denn? Ich begrüße abends meinen Sohn mit einem Freund auf der Straße und von Außen könnte man meinen, ich werde gerade überfallen? Der Mann, der mir seine Hilfe anbietet, ist peinlich berührt über seine Fehleinschätzung der Situation. Lachend fahre ich auf meinem Fahrrad nach Hause.
„Muss die uns einfach rausschmeissen?“
Etwas später am Abend kommt mein Sohn in unsere Wohnung. Da wir jetzt allein sind, frage ich ihn, was sie so kurz in der Bar gemacht haben? Er sagt, sie wollten dort Fußball gucken, die blöde Bedienung hätte sie aber rausgeworfen. Bei weiteren Nachfragen kommt heraus, dass sie in der Bar während des Fußballspiels nichts zu trinken bestellen wollten. Deshalb wurden sie logischerweise direkt wieder auf die Straße gesetzt. „Es war doch eh niemand in der Bar, muss die uns denn da einfach rausschmeißen?“, fragt mein Sohn empört.
„Ja, das muss sie!“, versuche ich meinem jugendlichen Sohn zu erklären und merke, seine Empörung ist echt. Unglaublich, dass die Jugendlichen überhaupt nicht auf die Idee kommen, dass die Frau eine Bar hat, um damit Geld zu verdienen!
Wer ist jetzt wem peinlich?
Auch nach der Schule habe ich Leo ein paar mal mit einem guten Freund getroffen, den ich ebenfalls kenne, seitdem sie klein waren. Wie gewohnt habe ich aufgrund ähnlicher Situationen in der Vergangenheit vermutet, Leo will, dass ich Ihnen kurz vom Fahrrad zunicke und schnell weiter fahre. Hinterher zu Hause habe ich ihn gefragt, ob das bereits zu viel für ihn war. Ich habe dann erfahren, dass er auf mich zugegangen sei mit der Vermutung, ich halte an, um beide kurz zu begrüßen. Dann sei ich aber einfach weitergefahren, was ihn verwundert habe.
Ich kann also wieder etwas dazulernen, denn mit über 16 bin ich meinem Sohn inzwischen „weniger peinlich“ als mit 13. Er kann mich jetzt auf der Straße vor seinen Freunden begrüßen und es ist gar nicht so schlimm für ihn. Mit 13 war das anders, da war es unglaublich wichtig zu zeigen, er ist selbständig und läuft nicht mehr mit seiner Mutter draußen rum. Mit 16 weiß das sowieso jeder und einer zufälligen Begegnung wird keine größere Bedeutung gegeben. Wie verrückt, für mich ist es gar nicht so leicht, Schritt für Schritt aus der Rolle der peinlichen Mutter wieder herauszukommen. Vielleicht bin ich inzwischen so in dieser Rolle gefangen, dass ich gar nicht merke, dass mein Sohn bereits einen Schritt weiter ist als ich!
Was für schöne Aussichten, dass ich irgendwann gar nicht mehr peinlich sein werde, jedenfalls nicht peinlicher als ich immer schon war! Wenn ich noch ein bisschen weiter denke, fällt mir auf, dass ich auch nicht unbedingt will, dass die Barbesitzerin merkt, dass dieser Kerl, der ohne ein Getränk in ihrer Bar mit weiteren 8 Jugendlichen Fußball gucken will, mein Sohn ist. Ist er mir in dieser Situation gerade unangenehmer als ich ihm?
Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen…
Wenn ich wieder auf meine eigene Jugend zurückkomme, fallen mir viele Situationen ein, die ich meinen Eltern erst viel später oder gar nicht erzählt habe. Ich glaube, ich war immer von einer großen Schar Schutzengel begleitet, die mich sicher durch die Welt der kleinen und großen Risiken gelenkt haben. Mein Vertrauensverhältnis zu meinem Sohn ist ganz gut und doch merke ich, manchmal ist es für mich besser, nicht alles zu wissen, was er mit seinen Freunden macht. Das ist auch ein Grund warum ich mich erschrecke, wenn ich ihn plötzlich auf der Straße treffe. Ich fühle mich dann, als würde ich in einem geheimen Tagebuch lesen und dabei Dinge erfahren, die gar nicht für mich bestimmt sind und über die ich mir eventuell große Sorgen machen würde. Vermutlich erledigen sich viele dieser Dinge aber mit der Zeit von selbst und sind kleine wichtige Erfahrungsbausteine für die Entwicklung meines jugendlichen Sohnes.
Auf der anderen Seite möchte ich natürlich wissen, was gerade in seinem Leben passiert. Wow, ganz schön schwer eine gute Balance zu finden, zwischen dem genauen hinschauen und dem entspannten wegschauen. Ich wünsche meinem Sohn einen soliden Trupp von Schutzengeln, die hier und da bei Bedarf helfen, größere Katastrophen sanft abzufedern.
Über das große geheime Glück, alleine Schimpfworte sagen zu können!
Als Leo klein war, war es ihm sehr wichtig, vieles ohne meine mütterliche Beobachtung auszuprobieren. Um zu seiner Grundschule zu kommen, musste er 10 Minuten durch die Innenstadt laufen. Dort angekommen trafen wir die Gruppe von Kindern und Betreuern, die dann zusammen in einem Stadtzug rausfuhren, um zu Leos Schule im Wald zu kommen.
Als er 8 oder 9 Jahre alt war, wollte er gerne den vertrauten Weg zum Zug allein laufen. Da wir in der Großstadt leben, war das in seinem Alter eher unüblich, aber wir haben es ausprobiert und es hat gut geklappt. Manchmal durfte er also ohne mich gehen und manchmal habe ich ihn begleitet. Witzigerweise habe ich erst jetzt erfahren, was der Grund dafür war, dass er allein gehen wollte. Er wollte den ganzen Weg vor sich hin pfeifen und ab und zu laut ein Schimpfwort sagen! Schimpfworte sagen geht natürlich ganz klar besser, wenn man allein ist, als mit der Mutter an der Seite, aber Pfeifen? „Warum konntest du an meiner Seite nicht pfeifen?“ habe ich ihn daraufhin erstaunt gefragt.
„Weil du immer mit mir reden wolltest!“, war seine Antwort und ich vermute, damit hatte er recht. Ich gehöre ganz klar zu den kommunikativen Müttern, die viel fragen und versuchen im Gespräch zu bleiben. In vielen Ratgebern wird genau das als ein Grundpfeiler eines soliden Eltern-Kind Verhältnisses gepriesen und ich denke, das stimmt auch. Aber hat schonmal jemand daran gedacht, dass Kinder mit sehr kommunikativen Eltern nicht zum Pfeifen und Schimpfwörter-sagen kommen?
Egal in welchem Alter die Kinder und Jugendlichen sind, ich halte es für wichtig, dass sie ab und zu mal ein bisschen Abstand zu uns Eltern schaffen, um dann allein all die Dinge tun zu können, die man unbeobachtet einfach besser tun kann. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, das gilt für Kinder und Jugendliche und auch für ihre Eltern! Vielleicht könnte ich bei zukünftigen Spontanbegegnungen mit meinem Sohn laut vor mich hin pfeifend in eine andere Richtung schauen. Wenn er dann außer Reichweite ist, kann ich auch mal probieren, das eine oder andere Schimpfwort vor mich hin zu sagen. Einfach so.
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