Ich freue mich schon seit einiger Zeit auf 4 Tage Fortbildung auf dem Land. In dem Seminarhaus in der Nähe Barcelonas werde ich von morgens bis abends beschäftigt sein, und dabei den ganzen Tag versorgt werden. Kein Einkaufen, kein Kochen, kein Aufräumen und kein jugendlicher Sohn, der irgendetwas von mir will. Himmlisch!
Fantasien, was alles passieren kann
Was mache ich in der Zeit mit Leo, meinem Sohn? Er ist jetzt 17 und würde natürlich liebend gerne alleine zu Hause bleiben. Kann ich ihm vertrauen? Momentan ist Leo „on fire“. Die Wochenenden geht er aus und lässt es krachen. Ich stelle mir sein Alleinsein hier in der Wohnung vor und denke an Partys, die in unserer kleinen Wohnung stattfinden werden. Nachbarn, die mich verzweifelt um 4.00 morgens anrufen, weil sie nicht schlafen können. Polizei, die sich bei mir meldet, ob Leo mein Sohn sei, ich könne ihn jetzt abholen. Ich sehe meine Wohnung überschwemmt, oder in Brand gesetzt, weil jemand geraucht hat und die brennende Zigarette aufs Parkett gefallen ist.
Anrufe vom Krankenhaus gibt es ebenfalls in meiner Fantasie, weil er mit dem Kopf zuerst von einer Parkbank gesprungen ist, oder er sich dort ausnüchtern muss. Letzteres ist ziemlich unrealistisch, weil es keinen Grund gibt, dass dies nur passieren kann, wenn ich weg bin. Wenn mein Sohn mit 17 noch nicht mit dem Kopf zuerst von einer Parkbank gesprungen ist, warum sollte er es jetzt tun?
Ein Versuch ist es wert
Ich atme tief durch. Als er 13 war, habe ich ihn einmal mit einem Freund 2 Tage allein gelassen und alles hat prima geklappt. Da war er allerdings noch nicht im Partyalter und die größten Sorgen meinerseits waren, dass sie den Haustürschlüssel vergessen, wenn sie rausgehen. Nachbarn und Freunde waren informiert, der Kühlschrank voll mit Pizza und Leckereien und Ersatzschlüssel verteilt. Die Jungs hatten ihren Spaß und Leo hat mich nur einmal angerufen, um zu fragen, ob man den Ofen für die Pizza vorheizen muss. Trotz meiner Nervosität war es ein Erfolg auf ganzer Linie.
Jetzt ist bei mir tatsächlich das Vertrauen, Leo beruhigt unsere Wohnung zu überlassen geringer. Die Palette der Dinge, die passieren könnten, ist größer. Da ich eine Fortbildung habe, von der ich weder schnell zurückkommen kann, noch gestört werden möchte, frage ich Freunde, deren Sohn Leos Freund ist, ob er ein paar Tage bei Ihnen bleiben kann.
Kein Problem, alle zufrieden und ich kann mich weiter auf meine 4 Tage freuen. Kurz vor dem Wegfahren rede ich nochmal mit der befreundeten Familie und stelle fest, sie haben das Datum vergessen! Leider fahren sie auch an diesem Wochenende weg, wobei ihr Sohn vermutlich zu Hause bleibt. Oh nein, denke ich, jetzt wird es doch nicht so entspannt für mich, wie ich gehofft hatte. Letztendlich entscheidet die Mutter mit mir, dass wir die Jungs in deren Wohnung allein lassen und vertrauen, dass nichts passiert. Beide Jungs haben ein Notfalltelefon in Barcelona, Geld zum Einkaufen und ein paar Grundregeln, von denen vermutlich nicht alle eingehalten werden.
Ich wurde selber einmal mit 15 Jahren mit meiner 19-jährigen Schwester ein paar Tage allein gelassen. Sie hatte bereits den Motorradführerschein und ich erinnere mich, dass wir nachts mit dem Motorrad in eine 20km entfernte Disco gefahren sind und in den frühen Morgenstunden zurück. Ob das so mit meinen Eltern abgesprochen war? Ich vermute, nein…
Lieber nicht zu viel nachfragen und vertrauen
Zurück zu Leo. Ich fahre auf meine Fortbildung und habe entschieden, Leo und seinem Freund zu vertrauen. Immerhin sind sie in deren Wohnung, sodass zumindest das Feuer und die Überschwemmung in meiner Wohnung als Möglichkeit wegfallen. Meine Nachbarn werden ebenfalls nicht gestört werden.
Jeden Tag schreibe ich eine kurze Nachricht: „Alles ok bei euch? Was habt ihr vor heute?“
„Alles ok, heute Abend Treffen mit Freunden und Party.“ Ist die Antwort.
Ich bin beruhigt und frage nicht mehr. Zu viel Fragen gibt manchmal zu viele Antworten, die dann wiederum viel Raum für Sorgen lassen. Lieber erstmal nicht zu viel wissen, ich kann ja immer noch nach meiner Rückkehr mehr erfragen. Alles ok bei meinem Sohn bedeutet: Es hat nicht gebrannt, die Wohnung ist nicht überschwemmt und niemand musste auf der Polizeiwache oder im Krankenhaus übernachten.
Ich konzentriere mich auf meine Fortbildung und schalte das Handy aus. Die 4 Tage sind intensiv und voll mit Programm. Das alte Landhaus ist wunderschön und das Essen sehr gut. 5 Minuten entfernt im Wald gibt es ein Naturschwimmbad und ich gehe jeden Morgen vor dem Frühstück schwimmen. Es gibt nur einen kleinen Haken in meinem 5-Bett Zimmer: Eine Frau schnarcht die ganze Nacht! Nach den 4 Tagen bin ich sehr übermüdet, erfüllt von allem, was ich gelernt habe und freue mich auf Ruhe und mein Bett zu Hause.
Letzte Nachricht an meinen Sohn: „Hinterlasst die Wohnung bitte ordentlich.“ „Ja, sagt Leo, wir sind gerade am Aufräumen und Putzen dann noch.“ Wenn ich Putzen höre, denke ich sofort, dass es vermutlich viel wegzuputzen gibt, sonst würden sie nicht putzen. Egal, die Jungs halten sich an die Abmachung und das ist prima.
Die Beichte nach der Rückkehr
Am frühen Abend treffen wir uns in meiner Wohnung, beide aus unterschiedlichen Gründen sehr übermüdet. Meine Befragung ergibt, dass sie viel zu Hause gechillt und abends dann Freunde getroffen haben. Leo hat sogar einmal für beide ein indisches Hühnergericht gekocht! Dann die Beichte: Am ersten Abend haben sie auf einem Platz ein Bierchen getrunken und ein Polizist in Zivil hat sie dabei erwischt. Hier in Spanien hat sich das „Cornern“ bzw. „Botellon“ auf Spanisch sehr verbreitet. „Botellon“ bedeutet nach 23.00, mit Gruppen von Menschen auf öffentlichen Plätzen außerhalb der Bars, Alkohol zu trinken. Es geht dabei hauptsächlich um die Ruhestörung der Anwohner. Überall im öffentlichen Raum treffen sich große Gruppen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sehr, sehr laut sind beim Feiern. Da die Jungs das wussten, hatten sie nur eine große Bierflasche auf dem Boden stehen und die anderen im Gebüsch versteckt. Abgesehen davon ist hier das „Alkohol trinken“ erst ab 18 erlaubt und nicht wie in Deutschland ab 16. Natürlich trinken die meisten Jugendlichen trotzdem vor 18 Alkohol.
„Was wäre passiert, wenn der Polizist die anderen Flaschen gefunden hätte?“ Frage ich meinen Sohn.
„Wir kennen da einen Vagabunden, mit dem ist abgesprochen, dass das Bier ihm gehört, dem passiert nichts!“ Ich weiß nicht, ob mich diese Information eher beruhigt oder beunruhigt… Strategien haben sie jedenfalls, die jungen Leute!
Alle fünf Freunde wurden von oben bis unten von dem Polizisten abgetastet und zum Glück hat dieser nichts weiter gefunden. Trotzdem wurden sämtliche Personalien aufgenommen und die Kids müssen jeder 15 Euro Strafe bezahlen, wenn der Strafzettel zu Hause ankommt. 15 Euro kommt mir wenig vor. Für Leos Freund ist das bereits die 3. Strafzahlung, für Leo die Erste. Natürlich ärgere ich mich und die Vorstellung, diese Polizeistrafe zu bekommen finde ich richtig doof.
Unterm Strich ist alles ganz gut gelaufen
Nachdem ich ein paar sehr deutliche Worte mit meinem Sohn gesprochen habe, denke ich, dass es wirklich schlau von ihm war, mir das alles erst nach meiner Rückkehr zu erzählen. Hätte ich die Nachricht direkt am ersten Abend bekommen, hätte ich mir vermutlich viele Sorgen während meiner Fortbildung gemacht. Leo sagt, er wollte mich nicht beunruhigen. Das hat er gut und richtig eingeschätzt. Vorsichtshalber sage ich ihm noch fürs nächste Mal, dass er mich bei größeren Problemen wie Krankenhausaufenthalten, Wasserschäden, polizeilichen Festnahmen und Feuerwehreinsatz direkt informieren soll. Alles andere kann warten.
Manchmal ist es einfach besser, nicht alles sofort zu wissen. Unterm Strich ist eigentlich alles ganz gut gelaufen: eine kleine Polizeistrafe, ein Sohn, der weiß, wann er seine Mutter besser in Ruhe lässt und eine aufgeräumte und geputzte Wohnung meiner Freunde! Und ich kann wieder ungestört in meinem Bett schlafen, wie wunderbar!
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