- Ich glaube ich habe ADHS!
Ruft mein Sohn und tritt in die Wohnung, während er dabei schwungvoll seinen Schulrucksack in den Flur pfeffert.
- Aha, wie kommst du denn darauf?
- Ein Freund in meiner Klasse hat das und der kann sich ganz schlecht konzentrieren und das geht mir auch so. Wenn mich was nicht interessiert, kann ich nicht zuhören.
- Naja, das geht mir auch so, ohne ADHS.
Tatsächlich habe ich als Jugendliche bei einem besonders langweiligen Geschichtslehrer unter dem Tisch meine Bücher gelesen, aber das muss mein Sohn vorerst nicht wissen…
Was ist ADHS?
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung im Volksmund auch „Zappelphilipp-Syndrom“ genannt. Auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums werden für ADHS 3 Hauptsymptome angegeben:
Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität.
Mindestens zwei davon bei meinem Sohn ziemlich ausgeprägt vorhanden. Die Impulsivität ist im Moment noch verstärkt durch das Jugendalter und die Unaufmerksamkeit vermutlich auch. Ich glaube, dass ich im Zusammenleben mit meinem Sohn das meiste zwei bis zehn mal sage. Selbst mit dieser Technik gibt es keinerlei Garantie, dass er das Gesagte, gehört, verstanden und so gespeichert hat, dass es auch nach 5 Minuten noch abrufbar wäre.
Bei der Hyperaktivität glaube ich bei Leo, dass die Jugendlichenhormone diese eher geschwächt haben. Alles chillt an ihm und seine vermeintliche Hyperaktivität der frühen Kindheit hat vermutlich beschlossen, es ist schöner in der Horizontalen zu liegen, als nervös von einer Aktivität zur anderen zu wechseln. Tatsächlich glaube ich, dass sich Jugendliche in der Horizontalen am wohlsten fühlen. Gib Ihnen ein Bett oder ein Sofa, ein elektronisches Endgerät ihrer Wahl, etwas zu essen und zu trinken und sie sind in ihrem natürlichen Habitat!
Muss man sich anstrengen im Leben?
Aber zurück zu Leos ADHS-Verdacht: In letzter Zeit ist es ihm tatsächlich häufig passiert, dass er sich in der Schule nicht auf das Thema konzentrieren kann, auch wenn er es versucht. Dazu kommt, dass die Lehrer glauben, er sei sehr schlau und wenn er in Mathe sagt, er verstehe etwas nicht, wird ihm direkt vorgeworfen, sich nicht anzustrengen oder einfach nur faul zu sein.
Zugegeben faul ist er auch, oder zumindest tut er nur das absolut Überlebensnotwendige, was ihm bei jedem Schulzeugnis bescheinigt wird: Wenn er sich anstrengen würde, könnte er bessere Noten haben. Aha, was ist das für eine Information? Wenn ich mich anstrengen würde, wäre ich wahrscheinlich dünn. Über das „sich anstrengen“ im Leben habe ich schon viel nachgedacht. Selbstoptimierung und maximale Anstrengung scheinen zum Erfolg zu führen. Was aber, wenn ich mich gar nicht so sehr anstrengen will und lieber herausfinden, welche Dinge im Leben mich so fesseln, dass ich sie mit einer Leidenschaft praktiziere, die gar keine so große Anstrengung braucht?
Ich wünsche meinem Sohn, dass er das für sich herausfindet auf seinem Weg im Leben und ja, ich gebe zu, es wird auch immer mal wieder nötig sein, sich ein bisschen anzustrengen! Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass er vielleicht wirklich manchmal falsch eingeschätzt wird und eine ADHS-Diagnose auch bei manchem Lehrer mehr Verständnis für Leo mit sich bringen könnte.
Exotische Diagnosen bei Kindern
Mein Sohn war bereits als kleiner Junge ein möglicher Kandidat für ADHS und mehr als einmal hat man mich darauf aufmerksam gemacht. Vor allem bei Besuch aus Deutschland kam ab und zu dieses Thema auf den Tisch.
Ich habe damals beobachtet, dass viele meiner Freunde und Freundinnen in Deutschland Kinder mit irgendwelchen tollen Diagnosen hatten! Da konnte man richtig neidisch werden: Eine z.B. war irgendwie nicht richtig geerdet und musste sich durch Tanztherapie mit ihren Wurzeln verbinden. Der andere hatte ADHS, und die dritte sollte durch Reiten und den Kontakt zu Pferden selbstbewusster werden. Von diesen Eltern fanden manche, dass Leo doch auch ganz schön laut und unaufmerksam und impulsiv sei und wer weiß, ob er nicht ADHS hätte.
Ja, das war sicher eine Möglichkeit. Wenn ich dann allerdings das Umfeld meines Sohnes und seine kleinen spanischen Freunde betrachtete, fiel mir auf, dass mindestens die Hälfte von ihnen ähnlich zappelig waren wie Leo. Manche ihrer Eltern hatten auch ganz klar diese Tendenz. Geh im Sommer in Spanien auf einen Platz, wo sich viele Leute in Cafés treffen und du siehst lauter Erwachsene, die alle gleichzeitig laut reden, keiner hört zu, manche telefonieren dabei, stehen auf und rauchen, Musik läuft und es wird viel gelacht. Sind das alles potenzielle ADHS-Kandidaten? Oder spielt da auch die Kultur eine Rolle und die Schmerzgrenze aller Beteiligten?
Meine Schwester, die Psychotherapeutin hielt ein ADHS damals bei meinem Sohn auch für möglich, allerdings nicht in einer sehr ausgeprägten Form. Es scheint also ADHS-Ausprägungen zu geben, die „ganz ok“ sind für das Umfeld und das Kind selber und andere, die „nicht mehr ok“ sind für das Umfeld und das Kind selber. Für mein Kind jedenfalls schien es damals kein Problem zu sein, denn er hatte weder schulische Schwierigkeiten, noch Probleme mit seinen Freunden. Er schien rundum zufrieden und manchmal auch nicht, alles im grünen Bereich fand ich damals.
Brauche ich eine ADHS-Diagnose?
Jetzt kommt aus meiner Sicht noch ein interessanter Aspekt dazu; Ob ein Kind die Diagnose ADHS oder nicht braucht, hängt anscheinend sehr davon ab, wie sehr diese Ausprägung des Kindes in der Familie stört. Für mich war es damals gut auszuhalten mit dem wilden kleinen Kerl, denn ich hatte auch sehr viel Spaß mit ihm. Langweilig wurde es jedenfalls nie! Wir sind viel in die Natur gegangen, weil er sich dort austoben konnte und jede Woche haben wir stapelweise Kinderbücher aus der Bibliothek geholt, weil er sich alles nur einmal durchblätterte und es danach langweilig fand.
Und wie gesagt, ihm ging es gut und mir auch, abgesehen davon, dass ich gerne mehr geschlafen hätte. Denn morgens um 6.00 rief mein Sohn laut durch die Wohnung: Mama es ist hell, aufstehen!
So kam es, dass ich nie mit Leo zu einem Psychologen gegangen bin, um mir Klarheit bei diesem Thema zu verschaffen.
Ein echtes Handycap – Musikhören bei den Hausaufgaben
Jetzt hat sich etwas verändert, denn es scheint etwas zu geben, was ihn tatsächlich stört. Er versucht sich zu konzentrieren und kann es nicht. Das ist ein echtes Handycap und es scheint mehr zu sein als nur Desinteresse an einem konkreten Thema, was ich auch von Leo kenne.
Im Internet gibt es Artikel und Tests und Leo macht sofort einen, bei dem herauskommt, er hätte eine mittlere Wahrscheinlichkeit ADHS zu haben. Natürlich erkläre ich ihm, dass diese Diagnose nicht per Internet stattfinden sollte, sondern bei jemandem, der sich richtig gut mit dem Thema auskennt.
Vorerst beschließen wir, sobald wir hier wieder entspannt zum Arzt gehen können (wegen der hohen Covidinfektionen sind Arztbesuche nur eingeschränkt möglich), diesem Thema auf den Grund zu gehen. Egal, was dann das Ergebnis dieser Untersuchung sein wird, kann es bestimmt hilfreich sein, den Blick und die Aufmerksamkeit darauf zu richten, um evtl. Techniken kennenzulernen, die das Konzentrationsvermögen verbessern. Zum Beispiel habe ich gerade gelernt, dass es individuell hilfreiche Techniken gibt, um sich besser konzentrieren zu können. Musik zu hören bei den Hausaufgaben oder sich beim Lernen zu bewegen sind mögliche Hilfen. Musikhören beim Lernen gehört zu den Dingen, die ich lange verboten habe, weil ich dachte, das lenkt total ab. Ich kann also auch mal wieder dazulernen, prima!
Hilfreiche Strategien finden
Als Leo klein war, sagte seine Grundschullehrerin über ihn, es sei unglaublich, dass er überall gleichzeitig seine Antennen hatte. Wenn er laut Quatsch machte, sagte sie zu ihm ermahnend, dass er jetzt bestimmt nicht wisse, was sie gerade erklärt habe. Er wusste dann aber trotzdem genau, was sie gerade erklärt hatte und vermutlich hatte er dabei auch noch beobachtet, wie sich draußen ein paar Vögel ein Nest bauen. Ärgerlich für die Lehrerin, praktisch für Leo! Mir war es damals nicht wichtig, dem Phänomen meines Sohnes einen genauen Namen zu geben.
Vieles verändert sich schnell bei Kindern und es gibt so viele Nuancen und Grautöne, die bei dieser Art von Festlegung manchmal übersehen werden. Trotzdem kann ich verstehen, dass Eltern, wenn der Leidensdruck groß ist, Hilfe brauchen und diese dann auch hoffentlich bekommen. Wenn weder Sie noch Ihr Kind leiden, rate ich dazu alle Kuriositäten und Eigenheiten Ihres Kindes mit Liebe und Humor anzunehmen.
Egal, ob wir demnächst eine Diagnose für meinen Sohn haben oder auch nicht, wird das vermutlich nicht viel verändern in unserem Leben, außer dass wir bestimmt ein paar gute und hilfreiche Strategien an die Hand bekommen.
Vielleicht führt es auch dazu, dass mein Sohn eine willkommene Ausrede zur Hand hat, alles was ihn nicht interessiert von vorneherein abzulehnen. Ich sehe ihn bereits, wie er, „Das kann ich nicht, weil ich ADHS habe!“ in den unterschiedlichsten Situationen einsetzt: bei den Hausaufgaben, aber auch wenn ich ihn bitte die Geschirrspülmaschine auszuräumen oder andere Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Vielleicht wäre es klug, uns mit dem Besuch beim Psychologen noch ein bisschen Zeit zu lassen…
Fritzchen
Mit dem Konzentrieren auf langweilige Geschehen habe ich auch so meine Last. Vielleicht liegt es auch an den Genen. Dein Tip: Geduld und liebevolle Zuwendung, ist wohl sehr empfehlenswert.
Kurzweilig geschrieben.!
alexk
Ich weiß, welcher Geschichtslehrer gemeint ist! Was hatte der noch’mal…? ((;
Stefanie Pfeil
…hahaha cool, aber das bleibt besser unter uns 😉