Aus dem Leben einer Mutter im Süden

Pfeilsenderstories

Hund oder Krücke?

Wenn meine Freundin Merce mit ihrem Hund im Park spazieren geht, grüßt sie rechts und links und tauscht mit anderen Hundebesitzer/Innen Neuigkeiten über ihre Hunde aus. Man fragt sich gegenseitig Dinge wie: „Hat Daisy die Entwurmung gut überstanden?“, oder: „Habt ihr Boss gesehen? Der ist seit dem Hundetraining viel ruhiger geworden!“. Merce hat „Hundefreundschaften“, Menschen, mit denen sie dieses eine Thema teilt und die ansonsten nichts mit ihr gemeinsam haben. Ein Hund verbindet.

Ich hätte nie vermutet, dass das Laufen mit Krücke einen ganz ähnlichen Effekt haben kann.

Was ist dir denn passiert, Mädchen?

Ich habe mir beim Fahrradfahren in Deutschland eine Knieverletzung zugezogen und laufe im Moment mit einer Krücke. Seitdem ich gestützt mit der Krücke und einer elastischen Binde am Knie durch die Gegend humpel, sprechen mich wildfremde Menschen an. Manche, gleich der Hundebesitzer/Innen untereinander, die ebenfalls mit Krücke oder Stock laufen. Besonders ältere Menschen fragen mich: „Was ist dir denn passiert, Mädchen?“ Hier in Spanien duzt man sich gerne und „Mädchen“ kann für jedes Alter beliebig verwendet werden, was ich sehr schön finde. Ich schaffe es dann meist kurz etwas vom Fahrradunfall zu sagen, dann werde ich bereits unterbrochen und sie erzählen mir ausgiebig ihre Krankengeschichte der letzten Jahre. Das ist oft lustig und interessant, aber nicht immer einfach wieder aus dem Gespräch auszusteigen, wenn ich in Eile bin.

Beim Ein- und Aussteigen in den Bus stehe ich mit meiner Krücke neben den älteren Herrschaften und wir sind die gleiche Gruppe, gleich den Hundebesitzer/Innen. Wir ärgern uns, wenn der Bus ruckartig anfährt und schimpfen gemeinsam auf den Busfahrer. Außerdem benutzen wir die Sitze, die für Menschen mit Stock oder Schwangere vorgesehen sind. Wir gehen langsam nebeneinander auf dem Bürgersteig. Hier muss ich zugeben, dass ich, wenn der Mensch neben mir sehr viel älter ist als ich, versuche zu überholen. Zeitlupenwettrennen am Stock.

Die älteren Menschen schauen mir lächelnd hinterher. Vermutlich denken sie: „Ich gönne ihr den Vorsprung, in 5-10 Jahren ist sie eine von uns!“

Fühlen wir uns jünger als wir sind?

Letzte Woche war ich in der Notaufnahme, wo mich eine sehr junge Ärztin behandelt hat. Als ich besorgt darüber war, nicht zu wissen, was genau in meinem Knie verletzt ist, sagte sie: „Bei jungen Menschen wird ein kaputter Miniskus noch operiert, bei Alten nicht mehr!“ Dabei schaute sie mich an. Was soll das heißen, „alte Menschen“? Lohnt es sich nicht mehr, mich zu operieren? Ich bin diesen Sommer 53 geworden und ich verstehe, dass ich damit nicht mehr zu der Gruppe der jungen Menschen gehöre. Bisher dachte ich allerdings, dass ich noch irgendwo zwischen jung und alt bin. Also mittelalt oder mehr alt als jung, aber auf keinen Fall ganz alt. So wie ein leckerer mittelalter Gouda.

Aus der Perspektive der jungen Ärztin war das anscheinend anders. Fühlen wir alle uns tendenziell jünger als wir sind? Meine Eltern (85 und 79 Jahre alt) reden manchmal von alten Leuten. Dabei meinen sie Menschen, die noch älter sind als sie selber, was ich lustig finde.

Zurück zu meiner Krücke. Ich bin groß und kräftig, was im Alltag dazu führt, dass ich nicht gefragt werde, ob ich Hilfe brauche. Ich schmeiße meine Koffer im Zugabteil alleine ins Gepäcknetz. Aus dem Supermarkt komme ich mit 4 Taschen und einer Kiste, schnalle alles an mein Fahrrad und fahre nach Hause. Ich werde oft nach dem Weg gefragt, oder ob ich helfen kann beim Einsteigen in den Zug. Ich packe mit an, wenn ein Kinderwagen ein Hindernis überwinden muss und ich mache das gerne.

Wann ist es gut zu helfen und Hilfe anzunehmen?

Mit einer Krücke, bin ich plötzlich in der Kategorie der Menschen, die Hilfe brauchen. Menschen bieten mir Hilfe an und es fällt mir schwer, diese anzunehmen. Manchmal brauche ich sie auch nicht.

Gestern an der Bushaltestelle wollte ich schauen, wann endlich mein Bus kommt. Ein Mann in meinem Alter fragt mich, wo ich hinwill. Ich sage es ihm und er fängt an, mir die Busverbindungen zu erklären. Ich sage, dass ich weiß, welchen Bus ich nehmen muss und nur die Zeiten checke. Er hört mir gar nicht zu, sondern hat mir bereits mehrere Verbindungen am Handy rausgesucht, die seiner Meinung nach die besten für mich wären. Ich setze meine große schwarze Sonnenbrille auf. Vielleicht denkt er dann, dass ich auch blind sei und lässt mich in Ruhe. Versteht mich nicht falsch, ich finde es wirklich total aufmerksam, wenn jemand fragt, ob ich Hilfe brauche. Wenn ich aber verneine, sollte der oder die andere mit dem Helfen aufhören, finde ich.

Zum Glück kommt in dem Moment mein Bus und hier trennen sich unsere Wege. Ich kenne das Gefühl, dass es manchmal nicht einfach ist einzuschätzen, ob jemand Hilfe braucht oder nicht. Irgendwie ist das mit dem Helfen ein Austausch zwischen zwei Personen und ich denke, im Zweifelsfall ist es gut, einfach zu fragen.

Jugendliche am Handy sehen mich in den Bus einsteigen und bieten mir ihren Sitzplatz an, wenn sie meine Krücke sehen, wie wunderbar! So weit zu einem Jugendlichen vorzudringen, gelingt mir im Alltag mit meinem Sohn nur selten. Auch beim Aussteigen bietet mir ein Mann Hilfe an, die ich voreilig ablehne. Wir steigen gemeinsam aus und ich merke, dass er irgendwie beleidigt ist, dass ich seine Hilfe abgelehnt habe. Mir tut es auch ein bisschen leid, denn ist es nicht auch schön sich helfen zu lassen, selbst wenn man es auch alleine hinbekommt?

Ich merke immer mehr, dass ich zu den Menschen gehöre, die alles alleine machen wollen. Vermutlich war ich ein nerviges Kind, was immer gleich: „alleine!“ gebrüllt hat, wenn jemand mir helfen wollte. Die Tendenz ist klar: „Mir helfen lassen, ist irgendwie uncool.“

Gleichzeitig stelle ich es mir unglaublich schön vor, jede Unterstützung mit einem Lächeln dankend anzunehmen. Ich beneide Menschen, die das können. Morgen werde ich es üben. Ich gehe mit meinen Krücken raus und werde jedes Hilfsangebot annehmen. Ich werde mir Busverbindungen raussuchen lassen, die ich nicht brauche und mir über die Straße helfen lassen. Wenn jemand meine Tasche tragen will, bedanke ich mich und gebe lächelnd meine Tasche aus der Hand. Nur bei dem Krückenwettlauf werde ich weiterhin versuchen, vorne zu bleiben. In 20 Jahren werde ich dann vielleicht von einer jüngeren Person mit Krücke überholt und denke an diesen Moment zurück. Irgendwann sind wir alle am Ziel. „Poco a poco“ wie der Spanier sagt.

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