Aus dem Leben einer Mutter im Süden

Kolumne: Morgens siehst du aus wie ein toter Clown!

Höhlendasein im spanischen Lockdown

heute ist in der Brigitte.de dieser Artikel in gekürzter Form erschienen

https://www.brigitte.de/aktuell/stimmen/alleinerziehend-im-lockdown—mein-sohn-bekommt-einen-euro-pro-umarmung–12447704.html

Totaler Lockdown mit jugendlichem Sohn

15.03.2020, es hat sich bereits in den letzten Tagen angebahnt, aber jetzt ist es offiziell: Spanien hat landesweit den Ausnahmezustand ausgerufen, die Schulen sind geschlossen, Bars, Sportstätten und Läden schließen auch und wir sollen alle zu Hause bleiben wegen dem Coronavirus. Unsere Stadt ist stark betroffen, die Krankenhäuser sind bereits jetzt überfüllt. Wir dürfen das Haus nur noch zum Einkaufen oder beim Gang zur Apotheke verlassen, Müll wegbringen wird zum Luxusspaziergang. Die Straßen sind voll mit Polizei, jeder Schritt wird kontrolliert. Uns erwartet Hausarrest durchgehend und auf unbestimmte Zeit. Die Menschen ziehen los und kaufen Klopapier, Mehl und Zucker als wären wir im Krieg.

Ich höre nur eins: HAUSARREST!

Ich bin eingesperrt mit meinem jugendlichen Sohn auf unbestimmte Zeit. Keine Schule, keine Freunde, kein Entrinnen, nicht für ihn, nicht für mich! Panik überkommt mich und es ist nicht die Angst vor dem Virus. Hat irgendjemand da draußen an die alleinerziehenden Mütter mit jugendlichen Kindern gedacht? Welches Virus kann diese Maßnahme rechtfertigen? Eine Zombieinvasion vielleicht oder ein Alienangriff…

Ich atme in eine Papiertüte. Auch ich mache einen Großeinkauf und was häuft sich in meinem Wagen? Alkohol und Schokolade! Es sieht aus, als hätte ich für eine Party eingekauft. Vorräte für mein kleines Mama Sohn Gefängnis, eingesperrt auf 57m2, Stadtwohnung ohne Balkon. „Wir schaffen das“ versuche ich zu meditieren und wünsche mir, dass eine Mutter der Nation kommt und mich erlöst!

Mein Sohn bleibt ruhig. Nimmt die Dinge so wie sie kommen und hofft vermutlich insgeheim, dass er nach einer Woche wieder so weitermachen kann wie vorher. Ich ahne, es wird lange dauern, sehr sehr lange…

Mein Sohn mutiert zum Höhlenmensch

Leo beginnt das Leben eines Höhlenmenschen, ohne die Jagd und das Feuer, dafür mit einem Handy, einem Computer und einer Tablet. Das Bett ist seine Insel, die er nur verlässt, um zu essen und auf Toilette zu gehen, den Schlafanzug zieht er kaum noch aus. Wegen des mangelden Sonnenlichtes, gebe ich ihm Vitamin D-Tropfen.

Nach und nach kommen wir in eine Art Tagesroutine. Meine große Freude nach den ersten Tagen ist, dass es irgendeine Art von digitalem Unterricht geben wird, egal wie, mein Sohn wird vormittags beschäftigt sein. Seine Schulklasse trifft sich bei Videokonferenzen und ich sehe, wie Leo anfängt, sich lustige Hintergrundbilder virtuell einzubauen. Dann bekomme ich von Leos Lehrerin eine Mail: „Leo mache viel Unsinn während des digitalen Unterrichts“, das war zu erwarten. Wenn regulärer Mittelstufenunterricht für einen Jugendlichen langweilig sein kann, stelle man sich das gleiche auf einem kleinen Bildschirm mit vielen kleinen Fenstern mit Schülern vor, eine Art virtueller Adventskalender. Überforderte Lehrer, denen ihre kleinen Kinder ins Bild laufen während 28 Jugendliche im Schlafanzug auf ihren Höhlenbetten heimlich neben dem Computer auf ihren Handys Videos schauen. Wieder einmal bin ich dankbar, nach einem angefangenen Lehrerstudium, doch einen anderen beruflichen Weg eingeschlagen zu haben.

Ich selbst habe zu tun und arbeite zu Hause wie immer. Mir fällt auf, dass mein Beruf total Pandemietauglich ist. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass mein Beruf der Alptraum vieler Menschen ist: Homeoffice! Die Tür des Kinderzimmers ist meist geschlossen, weiß der Himmel was in den vielen Wochen des Lockdowns alles dahinter stattfindet. Ich bin angenehm überrascht, dass mein Sohn bereit ist, mehr Hausarbeit zu übernehmen und auch mal zu kochen. Ist er vielleicht ein guter Partner in einem Survivalcamp? Ist ein Junge in seinem Alter vielleicht sogar froh, Wochen oder Monatelang eingesperrt zu sein und wegen Ausnahmezustand viel mehr Zeit an seinen elektronischen Endgeräten verbringen zu können?

Eine willkommene Abwechslung

Eine Freundin ruft an und fragt, ob wir bereit wären, uns für eine spanische Tageszeitung interviewen zu lassen. Es ginge darum, mit Jugendlichen und deren Eltern darüber zu sprechen wie sie das Homeschooling erleben. Leo ist einverstanden und ich finde es auch ok, also werden wir kurz darauf angerufen. Leo redet zuerst: Ich höre ihn reden in ganzen Sätzen, freundlich und sprachgewandt, wer ist dieser junge Mann?

Dann der Inhalt:  ich höre Sätze wie: „Jetzt kann ich endlich mal Dinge lernen, zu denen ich sonst nicht komme.“ Pause und nach Nachfragen auf der anderen Seite, höre ich wie er sagt, dass er angefangen habe, Französisch zu lernen.

What? Mein rappender Sohn im Schlafanzug, der meist schläft, Serien schaut oder mit Freunden chattet, sitzt aufrecht in seinem Bett und lernt französische Grammatik?

Habe ich ihn total falsch eingeschätzt? Ich muss sagen, ich bin beeindruckt, naja erstmal gehe ich aus dem Raum, damit die Reporterin mein Lachen nicht hört. Es gibt nur zwei mögliche Varianten:

  1. Hinter der Fassade des Gangsterrappers steckt ein lernbegieriger Intellektueller.
  2. Er hat sich das einfach nur ausgedacht, spontan und so überzeugend rübergebracht, dass er es wohl sogar selbst glaubt.

Beide Varianten sind irgendwie interessant finde ich. Die erste ist voller Hoffnung, dass er nur versucht seinen Lerndrang hinter der Fassade des Gangsterrappers zu kaschieren, um nicht als Looser bei seinen Freunden zu gelten.

Die zweite ist interessant, weil ich tatsächlich hohe Anerkennung für seine schauspielerische Leistung hätte, schließlich ist sein Traumberuf Schauspieler.

Ich kann es kaum abwarten, das Geheimnis zu lüften und er gibt es später direkt zu: „das mit dem Lernen klang irgendwie gut, das hab ich mir ausgedacht und dann fragt die auch noch nach, was ich lerne, da ist mir dann Französisch eingefallen.“

Hut ab, mein Sohn! Ja, Ehrlichkeit war schon immer ein Grundpfeiler meiner Erziehung, aber es gibt einen schmalen Grat zwischen Lügen und Geschichten erzählen und ich zähle diese Anekdote zum letzteren.

Der langsame Abstieg

Den 15. Geburtstag meines Sohnes haben wir auch im Lockdown gefeiert, der Traum eines Jugendlichen: mit Mama eingesperrt eine Geburtstagsparty feiern! Trotzdem gab es einen Schokoladenkuchen, das ein oder andere Geschenk und eins davon war die Serie „Game of Thrones“ zusammen zu schauen. Nachdem ich ihm seit Jahren verbiete, diese Serie zu sehen, mit dem Argument es gebe darin zu viel Gewalt, war ich nach 2 Wochen Hausarrest zu allem bereit. Dann haben wir es zusammen in einem Monat geschafft, 8 Staffeln durchzuglotzen und wir waren immer noch im Hausarrest! Falls das Höhlendasein ansteckend war, hatte es sich auf mich übertragen!

Schöne neue Lockdownrituale

Nochmal zurück zum Anfang des Lockdowns: Um nicht ganz und gar in eine Depression abzustürzen, versuche ich schöne Rituale in unseren neuen Alltag einzubauen. Jeden Tag hat entweder er oder ich einen Wunsch frei, etwas gemeinsam zu machen. Ich wünsche mir, mal wieder gemeinsam zu singen, er wünscht sich Crêpes zu machen, ich wünsche mir, dass er mir bei einem Video hilft, den ich für einen Verlag drehen soll.

Videos machen ist der neue Lockdown Trend, mal eben einen kurzen Video drehen! Es entpuppt sich als große Aufgabe und auch Leo muss Videos drehen, bei denen ich ihm helfe.

Mal endet es in hysterischen Lachanfällen, mal sind wir einfach nur genervt. Oder Leo findet, dass ich irgendwie doof gucke, oder bewege mich doof oder beides. Trotzdem: jeder Tag ist ein Wunschtag, was für eine gute Idee!

Nach wenigen Tagen haben wir irgendwie keine richtige Lust mehr auf so viele Wünsche und vor allem Leo hat keine Lust mehr, mir meine Wünsche zu erfüllen und geht zurück in seine Höhle. 

Gekaufte Umarmungen

Nach einem Monat Lockdown führe ich ein neues System ein: ich bezahle einen Euro für eine Umarmung! Mit einem Höhlenwesen in einer Wohnung zu sein, kann sehr, sehr einsam werden, vor allem wenn es verboten ist, Freunde zu treffen. Das Geld wird gesammelt und wir werden gemeinsam damit nach dem Lockdown Essen gehen. Mein Sohn umarmt mich 1-mal am Tag und ich zahle gerne dafür, so bekomme ich meine Umarmung und er muss sich nicht schlecht fühlen als 15-jähriger seine Mutter zu umarmen, denn es ist ja sozusagen ein Job.

Wertvolle gemeinsame Zeit – auf jeden Fall besser als mit einem Kleinkind im Lockdown

Manchmal während der langen Wochen gemeinsamen Höhlenlebens habe ich gedacht, dass diese Wochen vielleicht die intensivste Zeit sein werden, die wir miteinander haben, bevor Leo irgendwann ganz von zu Hause auszieht. So ein Höhlenjugendlicher ist irgendwie im Miteinander auch angenehm, die täglichen Streits fallen weg, weil es kaum etwas gibt, was sich auszudiskutieren lohnt, da sowieso alles verboten ist, was Spaß macht. Kinder dürfen nicht einmal zum Einkaufen raus in Spanien, die Stadt ist leer nur Hunde und deren Besitzer können auf die Straße. Ich vermute so manche hundelose Eltern haben sich in diesem Moment gefragt, ob sie damals richtig entschieden haben…

Endgültig Frieden mit meiner Lockdownsituation schließe ich, als ich im Supermarkt eine alleinerziehende Mutter mit einem 5-jährigen kennenlerne, unglaublich gestresst von der Lockdownsituation die Arme! Ich muss sagen, die Vorstellung mehr als 2 Monate ohne rausgehen zu können mit einem 5-jährigen Leo eingesperrt zu sein, wäre der Horror gewesen.

Damals bin ich bereits morgens um 7.00 im Park gewesen, weil das der einzige Ort war, wo Leo genügend Auslauf hatte, um seine kurzweiligen Ideen ausleben zu können. In der Wohnung war es nicht zum Aushalten. Nachdem Leo um 6.00 rief: „Mamaaaa, es ist schon hell!“ Sprang er frisch und munter aus dem Bett und wollte, dass die Action beginnt. Spielzeug hat ihn damals nur mäßig interessiert, er hatte mehr Interesse, Küchenschränke auszuräumen, überall mit dem Hammer einmal draufzuhauen, alle Kisten mit irgendetwas darin auszuleeren…

Um 8.00 morgens hatten wir oft schon gesungen, gespielt, ausgeräumt (er), eingeräumt (ich) und die einzige Rettung war: Picknick einpacken und raus in die Natur. Meist hatte er nach kürzester Zeit viele Stöcke und Steine unter dem Arm und in den Hosentaschen, war dreckig von oben bis unten und er kaute etwas, was er auf dem Boden gefunden hatte. Ständig musste ich gucken, dass die Spielplatztürchen geschlossen waren, denn sobald dieser kleine Kerl ein Schlupfloch fand, durch das er ausbüxen konnte, lief er ganz nach dem Lied „Hänschen klein“, in die weite Welt hinein. Und nein, auch wenn ich mal ausprobiert habe, nicht hinter ihm herzurennen (die Experten sagen, die Kinder bleiben dann stehen), er blieb nicht stehen! Lockdowntauglich war er damals definitiv nicht.

Auch wenn es schwerfällt, möchte ich an dieser Stelle ein Lob aussprechen: mein Sohn ist als Jugendlicher absolut lockdowntauglich! Ich glaube sogar wesentlich mehr als ich. Vielleicht hat er auch gar nicht gemerkt, dass wir mehr als 2 Monate eingesperrt waren? Ich werde bei Gelegenheit mal nachfragen.

  1. Fritzchen

    Steffi, da muss ich doch sagen, dass man in Deutschland nicht so eingesperrt ist wie in Spanien . Wir können spazieren gehen- auch ohne Hund und ohne Maske.
    Ich bin gespannt wie es bei Euch weiter geht.

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