Aus dem Leben einer Mutter im Süden

Pfeilsenderstories

Gemeinsam Orientierungslos


Könntest du mir sagen, wie ich zu Sagrada Família komme? Entschuldigen Sie bitte, wo geht es denn hier zu den Ramblas? Ist es noch weit zum Bahnhof? Oft werde ich nach dem Weg gefragt. Vielleicht sehe ich so aus, als würde ich den Weg kennen, oder ich wirke so als hätte ich gerade Zeit.

Barcelonas Flughafen wie im David Lynch Film

Letzten Sommer war ich mit meinem Sohn auf dem Flughafen in Barcelona. Wir haben das kurze Zeitfenster genutzt, in dem es möglich war zu reisen in der Pandemiezeit, um endlich die Familie in Deutschland wieder sehen zu können. Damals kamen wir an einen Barceloner Flughafen, der mich an David Lynch Filme erinnerte. Wenn man mit dem Stadtzug zu Terminal zwei fuhr, gab es keinen Shuttle Bus, der sonst auf alle Fahrgäste wartete. Wir standen mit sehr wenigen Menschen vor einem riesigen Parkplatz, es wurde dunkel und weit und breit war keine Menschenseele.

Diesen Parkplatz mussten wir zu Fuß überqueren, um in das Flughafengebäude zu gelangen. In das Gebäude kam man nur mit einem gültigen Flugticket. Innerhalb des Flughafengebäudes gab es weder geöffnete Cafés noch geöffnete Läden. Selbst die Informationsstellen waren nicht besetzt. Alles war mit Plastikplane abgedeckt. Überall waren Sperrbänder, die üblicherweise für Baustellen benutzt werden. Selbst das Flughafenpersonal ließ sich nirgends blicken. Mein Sohn vermutete, es hatte eine Zombieinvasion gegeben und alle sind tot. Ich bin sonst nicht so schnell bei dieser Art von Schlussfolgerungen, aber ich konnte die Möglichkeit auch nicht wirklich ausschließen.

Die Zombieinvasion wird immer wahrscheinlicher

Wir kamen bei der Flugankunft vorbei und sahen, dass auch dort keine Menschenseele wartete. Die Stimmung war unheimlich. Ab und zu ging wie von Geisterhand die Tür auf, aus der normalerweise Menschen aus allen Teilen der Welt in die Arme ihrer Abholer oder zu einem Bus oder Taxi eilen. Auf dem Boden waren rote Markierungen, wo man sich mit den Füßen daraufstellen soll, damit der Abstand zwischen den Personen eingehalten wird. Absurde Markierungen wenn man bedenkt, dass sowieso gerade niemand zum Abholen in die Ankunftshalle durfte.

Weil wir keine Ahnung hatten, wie das Fliegen zu Corona Zeit funktioniert, waren wir sehr früh zum Flughafen gefahren. In einer der riesigen Hallen setzten wir uns auf eine Bank. Ab und zu kamen andere Menschen in die Halle hinein, oder liefen mit ihren Koffern aus der Halle heraus. In den 2 Stunden, die wir dort warteten, kamen mindestens 20 Leute zu mir, um mich nach dem Weg zu fragen. Ich wurde auf Englisch angesprochen, auf Spanisch, auf Russisch, auf Arabisch und auf Deutsch. Ich wollte helfen. Manche Menschen schickte ich in die Abflughalle, andere zum Stadtzug ins Zentrum Barcelonas. Vermutlich schickte ich auch ab und zu aus Versehen jemanden in die Abflughalle, der gerade nach langem Flug den Ausgang im menschenleeren Flughafenlabyrinth suchte. Die Atmosphäre auf dem Flughafen war unheimlich, aber irgendwie gab es auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Geteilte Orientierungslosigkeit ist vermutlich besser als einsam orientierungslos zu sein.

Warum bin ich eine blöde Kuh?

In letzter Zeit werde ich nicht mehr so viel nach dem Weg gefragt und ich frage mich, woran das liegen kann. Ich erlebe andere, viel absurdere Situationen auf der Straße. Vor Kurzem habe ich mich nach einem gemeinsamen Mittagessen von zwei Freundinnen verabschiedet und wollte gerade nach Hause gehen. Da kam eine junge Frau direkt auf mich zu. Sie sagte zu mir: „Kannst du mir bitte helfen?“

Ich fragte: „Womit denn?“ 

Daraufhin sagt sie: „Blöde Kuh!“ zu mir und ging wütend schimpfend weg. 

Ich blieb zurück und wunderte mich. Was war gerade passiert? Ich sah die Frau von Weitem eine nächste Person ansprechen. Mein Impuls war, ihr hinterher zurufen: „Was ist da gerade passiert, ich wollte dir doch helfen?“

Ich denke, eine Erklärung für dieses Missverständnis ist, dass wir beide Atemschutzmasken trugen. Für mich hat das den Effekt, dass ich manches nicht verstehe, was man mir sagt. Vermutlich hat sie mich nicht verstanden. Ich habe nachgefragt, womit kann ich dir helfen, und sie hat vielleicht verstanden: „Hör auf, mich zu nerven!“ Es ist auch eine von vielen Situationen, in denen ich merke: Die Stimmung auf der Straße ist aggressiver geworden.

Begegnung mit einem wütenden Mann draußen vor der Steuerbehörde

Heute muss ich zu Barcelonas Steuerbehörde, um Papiere aus Deutschland stempeln zu lassen und ich weiss bereits vorher, dass dies vermutlich nicht gelingen wird.

Als ich mein Fahrrad anschließen will, kommt ein Mann auf mich zu. Er will offensichtlich auch an den Fahrradständer, um sein Fahrrad abzuholen. Er kommt direkt aus der Steuerbehörde. Bereits von weitem, ruft er mir etwas zu. Er sagt: „Ich bin über 50 Jahre, habe keine Frau und kein Kind und niemanden, der mir Liebe schenkt!“ 

Ich höre ihm interessiert zu, während ich mein Fahrrad abschließe. Ich denke: „Vielleicht ist er witzig, und gleich kommt die Pointe.“

Er schimpft aber einfach weiter und dabei schaut er mich an. Ich soll hören, was er zu sagen hat. Er macht keine Pause beim schimpfen, es ist also anscheinend für ihn nicht wichtig, was ich dazu sage. 

Er sagt, er hätte gerade einen Termin bei der Steuerbehörde gehabt. Eine staatliche Hilfe, die er beantragt hatte, sei ihm abgelehnt worden. Er habe nun nichts mehr und er wisse nicht, wovon er leben soll. Dann sagt er noch, er habe nicht darum gebeten, geboren zu werden.

Ich will etwas Tröstendes sagen, aber etwas richtig Gutes fällt mir so schnell nicht ein. Inzwischen habe ich gemerkt, es ist kein Spaß, es kommt auch keine Pointe. Es scheint auch kein verrückter Mensch zu sein, der durch die Straßen geht und mit sich selbst redet. Dieser Mann kommt direkt von der Steuerbehörde, und weiß nicht mehr, wovon er leben soll. Alles, was er sagt, macht Sinn. Inzwischen hat er sein Fahrrad los gemacht und sagt, ihm reicht‘s, es wäre jetzt auch egal, wenn ihm etwas passieren würde.

Um ein Haar…

Voller Wut nimmt er sein Fahrrad und fährt auf eine große Straße. Er fährt in Gegenrichtung der Fahrbahn und ruft, es sei ihm scheißegal einfach überfahren zu werden. Es ist eine große Geste und ich erschrecke mich darüber. Allerdings sehe ich auch, dass gerade rot ist für die Autos an der nahen Ampel und kein Auto auf der Straße fährt. 

Ich rufe ihm beim Wegfahren zu, es täte mir leid und ich wünsche ihm viel Glück. Das wünsche ich ihm wirklich. Ich muss noch viel an diesen Mann denken die nächsten Tage und daran, was er repräsentiert in dieser Zeit. 

Der Codehobbit ist in seinem Element

Während ich das Gebäude der Steuerbehörde betrete, geht mir der Satz des wütenden Mannes nicht aus dem Kopf: „Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden!“ Habe ich darum gebeten, geboren zu werden? Ich bin auf jeden Fall sehr zufrieden damit, geboren worden zu sein und ich merke, dass diese Gewissheit ein großes Glück ist. A12, meine Nummer erscheint begleitet von einem Piepston auf dem Bildschirm, Schalter 8.  Hat je jemand verstanden, wie diese Reihenfolge Nummern funktionieren? Vor mir auf dem Bildschirm stand AA352 und B-14V. Was macht das für einen Sinn?

Gibt es hier eine Art Codehobbit, der sich absurde Zahlen und Nummerkombinationen ausdenkt und diese jeden Tag bei den Behörden in beliebiger Reihenfolge auf den Bildschirm schreibt? Es piepst ungefähr im 10 Sekundentakt. Ich vermute für sensible Menschen, die gerade in einer Lebenskrise stecken, ist schon allein das ein Grund, innerlich aggressiv zu werden.

Dafür sind wir hier nicht zuständig!

Ich bin jetzt also dran und der Steuermann schaut sich meine deutschen Formulare an und sagt: „Das kenne ich alles nicht und das bearbeiten wir hier nicht! Eine andere Behörde sei dafür zuständig, aber die vergebe gerade keine Präsenztermine. Ich könne es online probieren. Online hatte ich es bereits probiert, aber leider ist das System auf PC’s eingestellt.

Ich habe einen Mac Computer, sage ich, woraufhin der Mann verständnisvoll und mitleidig nickt. Ich verabschiede mich und merke, wie ich innerlich aggressiv werde. 

Ich weiß, der Steuermann kann nichts dafür, aber es wird niemanden geben, der meine komischen Formulare abstempeln will. 

Vielleicht sollte ich auch draußen vor der Steuerbehörde jemanden anschreien, aber irgendwie bin ich noch nicht soweit. Ich habe im Gegensatz zu dem wütenden Mann von vorhin das ganz große Glück, mir Wohnen und Essen leisten zu können. Der Computerbildschirm piepst und der Codehobbit hat Y-222 für Schalter 14 eingegeben. Ich fahre unverrichteter Dinge nach Hause.

Einsamkeit in Pandemiezeiten

In Spanien ist die Arbeitslosigkeit und Armut extrem gestiegen in den letzten anderthalb Jahren. Viele Menschen müssen sich zwischen Essen oder Wohnen entscheiden, denn für beides reicht das Geld nicht. Es gibt also einen realen physischen Notstand, den manche Menschen gerade erleiden. Nicht zu unterschätzen ist allerdings auch der Anstieg an psychischen Erkrankungen in der Pandemiezeit. Ich glaube, ein zentrales Thema ist die grosse Einsamkeit, die viele Menschen gerade erleben. Als wir letztes Jahr 3 Monate im totalen Lockdown waren, habe ich mich mit einer Freundin in einem Supermarkt am Kühlregal mehrmals die Woche getroffen. Ein anderer Freund hat mir ebenfalls seine Einkaufszeiten gesagt und ich habe draußen auf seine Hündin aufgepasst, während er einkaufte. Manchmal sind es diese kleinen Begegnungen, die alles viel einfacher machen. Ich glaube, für mich war es meine Rettung. Verrückt, dass es Menschen gibt, die nicht einmal diese kleinen Glücksmomente haben. Ein freundliches Wort im Supermarkt, ein Lächeln im Vorbeigehen auf der Straße kann manchmal so unglaublich wichtig sein.

Ich beschließe, morgen in Urlaub zu fahren und vorerst den gesamten Papierkram auf meinem Schreibtisch liegen zu lassen. Wenn ich ein paar Wünsche frei hätte, wäre einer davon, dass jeder über und auch unter 50 jemanden hat, der ihm oder ihr Liebe schenkt und sich niemand zwischen Essen oder Wohnen entscheiden muss. Glücksmomente gut verteilt für alle wäre definitiv auch mit dabei auf meiner Wunschliste. Ach ja und dann hätte ich noch gerne einen „Steuerformulare-Hobbit“, der alles Wichtige für mich erledigt, so dass ich nie wieder einen unsinnigen Termin bei irgendeiner Steuerbehörde haben muss!

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