Inzwischen kann mein Sohn seine Hand wieder ganz gut bewegen, immerhin sind fast 6 Wochen vergangen seitdem. Hatte ich erwähnt, dass die Sommerferien in Spanien fast 3 Monate lang sind? Was für eine Herausforderung bei großer Hitze einen Jugendlichen jeden Tag zu Hause zu haben. Da lag er dann rum auf dem Bett vor dem Ventilator und kam wie ein Vampir erst in den späten Abendstunden in Bewegung. Nachts treffen mit Freunden und am nächsten Tag wieder schlafen vor dem Ventilator war sein Ferienprogramm.
Vom Bett in den Urlaub
Was kannst du dagegen tun als Mutter eines 17 ½ jährigen Jungen? Nicht viel, außer hoffen, dass die Ferienzeit bald vorbei ist. Wenn es dir möglich ist, verreise ein paar Tage mit dem Jugendlichen, damit dieser mal sein Bett verlässt. Nachdem Leo ein paar Tage bei seinem Vater verbracht hatte, sind wir zusammen nach Deutschland gereist. Deutschlandurlaub heißt bei uns, Familie und Freunde treffen, das Dorfschwimmbad genießen und alle 2,3 Stunden leckere Sachen essen.
Zurück zu Leo: Inzwischen fragt mein Sohn nicht mehr, ob es ok ist, dass er ein paar Tage unseres Urlaubs seinen Cousin in Magdeburg besucht und wann das passen könnte. Er sagt stattdessen:
„Übrigens, fahr ich diese Woche ein paar Tage zu Simon.“
Aha, denke ich, immerhin sagt er Bescheid und fährt nicht einfach weg. Bei meinen Eltern schläft mein Sohn im Hobbykeller auf einer Matratze, halb unter der Tischtennisplatte. Dort ist er auch die meiste Zeit, sodass wir ihn nur zu den Mahlzeiten sehen. Vielleicht hätten wir am ersten Tag gar nicht gemerkt, dass er weggefahren ist.
Diesen Sommer gibt es das 9euro Ticket, mit dem man in ganz Deutschland Regionalzüge etc. nutzen kann. Wir suchen eine Strecke für Leo aus, um nach Magdeburg zu kommen, mit 3x Umsteigen und fast 4 Stunden Fahrt.
Abenteuerliche Reise nach Magdeburg
Auf halber Strecke schreibt Leo, wegen Gleisarbeiten würde sein Folgezug ausfallen. Nach einer Stunde warten, es ist inzwischen Abend, schließt das Reisezentrum. Leo sitzt auf einem Bahnhof in einem kleinen Ort in Ostdeutschland und es kommt kein Zug mehr. Mein Sohn ist fast zwei Meter groß und Mulatte und fällt vermutlich sehr auf dort.
Leo: „Jetzt ist das einzige Taxi auch noch weggefahren und ich bin ganz alleine hier.“
In meiner Fantasie sehe ich einen verlassenen Bahnsteig und rundherum eine sandige Landschaft. Ab und zu weht etwas vorbei, was in Western immer vorbeiweht. Was ist das eigentlich? Staub, Äste, kleine Tiere? Ich schaue im Internet nach und sehe, es sind Pflanzen, die sich durch dieses unkontrollierte Herumkullern vermehren, auch Steppenhexe oder Bodenroller genannt. Meine gesamte Familie versucht alternative Bahnverbindungen über das Handy herauszufinden, aber es gibt keine.
Wir rufen das einzige Taxiunternehmen am Ort an und ein sehr unfreundlicher Mann sagt, er sei noch beschäftigt und mache bald Feierabend. Und ja, den großen dunkelhäutigen Jungen am Bahnhof hätte er bereits gesehen.
Ich mache mir Sorgen um Leo. Ich glaube, ich bin keine extrem besorgte Mutter. Mein Sohn geht in Barcelona mit seinen Freunden aus bis in die frühen Morgenstunden und ich mache mir keine Sorgen. In meiner Wahrnehmung ist das allerdings nichts gegen „alleine als dunkelhäutiger Jugendlicher auf einem ausgestorbenen Bahnhof in Ostdeutschland zu sitzen“. Ich habe Angst vor möglichen Neonazis im Ort, die sich langweilen. Ich weiß, dass die meisten Ostdeutschen keine Rechtsextremisten sind und vermutlich gibt es in vielen Dörfern tolle Menschen und keine Neonazis. Tolle Menschen und dieselben Langweiler und Verrückten, die es überall gibt.
Leider haben wir als mein Sohn klein war selber einmal Fremdenhass erlebt in Ostdeutschland, und das hat mich geprägt. Damals ist mir klar geworden, dass du dich als dunkelhäutiger Mensch in manchen Regionen Deutschlands nicht gefahrlos bewegen kannst.
Am Ende finden wir eine Alternative für Leo und er kommt nach 10 Stunden Fahrt (200 km) mitten in der Nacht in Magdeburg an. Vermutlich eine ganz normale Begebenheit mit der Deutschen Bahn, sozusagen eine Erfolgsgeschichte, denn immerhin ist er ja am Ziel angekommen! Fremdenfeindlichkeit hat er zum Glück dabei nicht erlebt.
Boxmaschinenbattle mit Folgen
Endlich zusammen mit dem Cousin, wir sind erleichtert und hören zwei Tage nichts von den beiden. No news = good news.
Dann ein Anruf von Leo: „Mama, mach dir keine Sorgen, wir sind im Krankenhaus.“
Das Sorgenbarometer geht direkt auf Hundert bei mir.
„Was ist denn passiert?“
„Ich habe gestern bei nem Straßenfest ein Battle mit so einem netten Kraftprotz gehabt bei dem Boxautomaten und da hab ich mir die Hand verletzt.“
Netter Kraftprotz, Boxautomat, Battle, hä? Es stellt sich heraus, mein Sohn wurde von einem Magdeburger Kraftprotz herausgefordert und sie haben um die Wette gegen eine Boxbirne gedonnert. Dabei haben die beiden einen Rekord nach dem anderen gebrochen und sich gegenseitig übertrumpft. Leo war um ein paar Punkte im Rückstand und wollte beim allerletzten Schlag nochmal alles geben…
Ich weiß nicht, mit welcher animalischen Wucht er gegen die Boxbirne gehauen hat. Ich vermute, der Schlag ging auch teilweise direkt neben der Boxbirne gegen den Metallrahmen der Maschine. Das Ergebnis waren Schürfwunden und eine so starke Prellung, dass die Hand über Nacht doppelt so groß und schließlich bis zum Ellbogen in der Magdeburger Notaufnahme eingegipst wurde.
Beim langen Warten im Krankenhaus hatten die beiden Cousins sehr viel Spaß trotz der verletzten Hand. Ich stelle mir vor, wie das ist, wenn du mit einer Verletzung oder Krankheit in der Notaufnahme sitzt und neben dir zwei große Kerle nicht aufhören zu kichern…
Angeblich hat mein Sohn bei einem Pfleger, dem der Kittel verrutscht war, auf dem Nacken ein Hakenkreuz gesehen, aber ich bin nicht sicher, ob das stimmt.
Lernen Jugendliche aus ihren Erfahrungen?
Leo sagte hinterher: „Die waren alle sehr nett zu mir auf dem Straßenfest. Und der Kraftprotz war auch total lieb.“ Irgendwie fand ich das schön zu hören, dass Leo diese positive Seite Ostdeutschlands kennengelernt hat. Auch wenn die Erfahrung für ihn mit einer eingegipsten Hand geendet ist. Ich war einerseits besorgt um seine verletzte Hand und den Ferien ohne Schwimmbad für ihn. Andererseits war ich auch fassungslos, wie man sich auf so eine absurde Art die Hand verletzten kann. Ich kann es auch jetzt noch nicht erzählen, ohne dabei nervös zu grinsen. Die Hand in Gips war die perfekte Ausrede für Leo, um die verbleibenden Tage am Handy auf der Matratze unter der Tischtennisplatte zu verbringen.
Hat mein jugendlicher Sohn etwas aus dieser Erfahrung gelernt? Ich weiß es nicht, vermutlich wird er mit Boxautomaten in Zukunft etwas vorsichtiger umgehen. Aber stell Leo morgen vor eine andere Kraftprotzmaschine, zum Beispiel „Hau-den-Lukas“ und er wird drauf donnern als ginge es um sein Leben.
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