Aus dem Leben einer Mutter im Süden

Kolumne: Morgens siehst du aus wie ein toter Clown!

Eine Oscarrede ins Jenseits

Leos Zukunftsphantasien

In der aktuellen Lebensphase meines Sohnes scheint für ihn das meiste irgendwie anstrengend. Seine Phantasie über seine Zukunft ist, ohne jegliche Anstrengung irgendwann einmal einen schönen Beruf zu haben. Dann wird er unglaublich viel Geld verdienen, ist berühmt und lässt andere für sich arbeiten.

Klingt einfach, warum hab ich das damals nicht so gemacht?

Tatsächlich zeigt sich schon länger die Tendenz, dass mein Sohn, Schauspieler werden möchte. Er spielt in einer Theatergruppe mit und hatte schon immer ein dramatisches, ja ich würde sagen komisches Talent. Das scheint sich jetzt mit der Angst vieler Jugendlichen uncool zu sein zu mischen, also wird dieses Talent gezielt eingesetzt oder gänzlich unterdrückt, je nach Situation.

Dass er schauspielinteressiert ist, heißt nicht, dass er Shakespeare und Molière liest, denn er wird Kinostar und nicht Theaterschauspieler, sagt er. Wie ich beobachte scheint mit dem „sich nicht anstrengen wollen“ der jungen Menschen oft ein sehr hoher Anspruch an das, was Ihnen das Leben bescheren wird, kombiniert. Ich denke, vermutlich ist es gar nicht schlecht, sich große Ziele zu setzen.

Die etwas andere Oskarrede

Da er sich bei seiner Schauspielkarriere bereits unter den Oscargewinnern sieht, hat er jetzt angefangen seine Dankesrede zu üben.

Es gibt unterschiedliche Versionen, mal auf englisch, mal auf deutsch vorgetragen. Meist sieht er sich Anfang 20, an seiner Seite eine wunderschöne Partnerin, diese höchste Auszeichnung der Schauspielkunst entgegennehmen.

Heute habe ich wieder einmal die Ehre diesem Schauspiel beizuwohnen. Diesmal geht er nach dem ersten Freudenschrei lächelnd und mit Tränen in den Augen hoch auf die imaginäre Bühne und sagt, dass er es kaum glauben könne, total nervös sei, und was für eine große Ehre es sei, mit gerade mal 22 Jahren diesen unglaublichen Preis zu bekommen!

Dann fängt er an, sich zu bedanken, zuerst bei seiner wunderbaren Partnerin, grüßt seine Kinder, (was? Mit 22 mehrere Kinder? Das kann nur an den afrikanischen Wurzeln liegen!), dann macht er weiter mit seinen Eltern. Hier kommen mir dann die Tränen und ich sehe ihn in Gedanken, wie er sich für all die Jahre bedankt, die ich ihn als alleinerziehende Mutter begleitet und unterstützt habe. Ich sehe mich in Großaufnahme mit einem wunderbaren glitzernden Abendkleid gerührt und belohnt für diese Zeit. Was für ein Geschenk!

Jäh werde ich aus meinen Tagträumen gerissen, denn mein Sohn spricht von seinem Vater: „Danke Papa, denn obwohl ich nicht bei dir aufgewachsen bin, warst du immer für mich da, wenn ich dich brauchte. Danke auch an deine Frau und meine drei Schwestern.“ Ok ruhig bleiben, er hebt sich das Beste für den Schluss auf.

Dann hebt er in einer dramatischen Geste den Blick gen Himmel und sagt: „Danke auch an meine Mutter, die leider nicht mehr unter uns ist. Du hast zwar auch manchmal genervt, aber ohne dich, wäre ich jetzt nicht hier!“ Dann noch eine Kusshand in den Himmel und fürs Publikum, strahlend hält er den Oscar hoch in die Luft und geht wieder auf seinen Platz neben seine Frau, seine 3 Kinder und seinen Vater.

Mein Sohn hat mich sterben lassen in seiner Oscarrede. Er wäre 22, das heißt, mir bleiben maximal 6 Jahre bevor mich irgendeine Krankheit oder ein schwerer Verkehrsunfall dahinrafft. Ich muss zugeben, die Dramatik war gut und sicher schafft er es, die Zuschauer im Saal und an den Bildschirmen zu Tränen zu rühren, aber muss ich dafür wirklich sterben?

Und was bedeutet: „Sein Vater war da, wenn er ihn brauchte und ich hingegen habe manchmal genervt?“

Meine Zukunftsphantasien

Väter, die nur wenig oder kaum für ihre Kinder da sind, scheinen oft zu Helden zu werden. Schließlich kann alles, was nicht in der Realität passiert, schön phantasiert werden. Anwesende einzelne Elternteile, meist die Mütter haben so eine große Präsenz in der Realität eines Jugendlichen, dass hier für schöne Phantasien leider kein Platz ist. Ein Tipp an alle alleinerziehenden Mütter: erwartet keine Dankbarkeit von einem Jugendlichen, hofft lieber dass ihr noch viele Jahre lebt und der Jugendliche als Erwachsener irgendwann merkt, dass ihr eigentlich ganz ok wart als Mutter. Die Zeit wird auch bei uns kommen und hoffentlich kann ich dann auch bei seiner Oscarrede irgendwo zwischen seiner Frau, seinen Kindern und seinem Vater sitzen.

Unterschätze einen Jugendlichen nicht!

Während der Lockdownzeit wird Leos Theatergruppe per Videokonferenz weitergeführt, das heißt Mittwochnachmittags höre ich aus Leos Zimmer wütendes Schimpfen und lautes Lachen, je nachdem was gerade geprobt wird. Diesen Mittwoch dann sollen die Jugendlichen einen ihrer Eltern darstellen. Zuerst will mein Sohn seinen Vater spielen. Schließlich findet er, da er seinem Vater sehr ähnlich sieht und auch der Kleidungsstil nicht sehr abweicht, es sei vielleicht lustiger, seine Mutter zu spielen. Um das ganze authentischer zu machen hat er sich einen BH von mir ausgeliehen, diesen mit Socken gestopft, und ich habe ihn geschminkt. Dann noch Haarspangen in die Haare, um sie ein wenig meiner Frisur ähneln zu lassen, eine Handtasche umgehängt und voilà: Mein Sohn sieht aus wie ich in ein Meter neunzig! Erschreckend!

Ab dem Moment, in dem er in seine Mamarolle schlüpft, bewegt er sich anders, legt den Kopf schief beim Reden, gestikuliert wie eine Frau und macht meinen leichten deutschen Akzent nach. Bei der Vorführung während der Videokonferenz hat er mich dann so gespielt, als hätte ich technische Probleme. Mein von ihm gespieltes Ich ist total kommunikativ und einfühlsam. Aha, das ist also sein Bild von mir, naja es könnte schlimmer sein. Die Schauspielerin, die die Gruppe leitet, hat mir hinterher Nachrichten geschrieben wie unglaublich lustig und echt Leo mich nachgemacht habe. Ich bin überrascht, dieser Junge, der vordergründig an nichts interessiert zu sein scheint, was von mir kommt, ist ein feiner Beobachter und bekommt anscheinend mehr mit, als ich so denke hinter dieser „lasst mich alle mal in Ruhe“ Haltung.

Was können wir daraus lernen? Unterschätze einen Jugendlichen nicht!

Jugendliche, Schildkröten und Kakerlaken

Wenn ich in dem Zusammenhang mit dem Tierreich vergleiche, kommt mir als erstes eine große Schildkröte in den Sinn. Schildkröten bewegen sich sehr langsam, wirken besonnen und hören nicht besonders gut. Allerdings haben sie die guten Augen aller Reptilien und einen exzellenten Orientierungssinn. So können sie sich ausgezeichnet Futterquellen und Fluchtwege merken. Wenn Gefahr droht, ziehen sie sich zurück in ihren Panzer, dort sind sie unerreichbar für ihre Außenwelt. Die Beschreibung passt Wort für Wort auf meinen Sohn. Nach Außen gut geschützt doch trotz allem gute Augen und einen scharfen Blick für jedes Detail. Wahrscheinlich kein Zufall, dass Schildkröten mit diesen spezifischen Merkmalen bereits seit 220 Millionen Jahren existieren. Nach einem Atomkrieg bleiben nach meiner Theorie also nicht nur die Kakerlaken übrig, sondern auch Schildkröten und Jugendliche.

Kinderphantasien

Da fällt mir eine Anekdote ein, als Leo knappe 3 Jahre alt war. Er saß auf meinem Schoss und hat mit beiden Händchen mein Gesicht in die Hand genommen und versucht, meinen Kopf nach oben zu bewegen. Als ich ihn fragte, was er da macht, sagte er: „Mamas Kopf soll ab!“ Ich hab ihn dann gefragt, was er denn mit meinem Kopf machen will, woraufhin er antwortete: „Kuller, kuller kuller…“

Vermutlich hat das nicht wirklich mit Tötungsphantasien eines 3-Jährigen zu tun, sondern einfach mit der Entdeckung, dass so ein Kopf schön rund ist und ein richtig guter Fußball wäre!

The show must go on!

Wenn er als Jugendlicher bei einer fiktiven Oscarrede die eigene Mutter ins Jenseits schickt, kann ich davon ausgehen, dass er diese neue Dimension gewählt hat, mit dem Wissen, dass seine Mutter eventuell nicht erfreut ist, über diese unerwartete Wendung in der Zukunft.

Vermutlich dient es der emotionalen Ausgeglichenheit meines Sohnes, sich solche Phantasien erlauben zu können und diese sogar mir gegenüber auszusprechen. Meine Expertenfreundin (selbst liebevoll Psychotante genannt) sagt, es gäbe ein sogenanntes „Grenzwächtergefühl“ mit dem Ärger und Wut verarbeitet werden können. Dieses Gefühl dient der Abgrenzung des Jugendlichen zu seinen Eltern oder Elternteilen. Ob es sich hierbei wirklich um dieses Grenzwächtergefühl handelt, wissen weder ich noch meine Freundin, aber ich wollte das Wort gerne mal verwenden, klingt irgendwie gut!

In meiner maximalen Unwissenheit versuche ich trotz alledem, mich innerlich zu entspannen und zurückzulehnen als Zuschauerin in diesem Theater. Gewappnet mit einem Taschentuch für die Tränen, vor Lachen, Rührung oder Verzweiflung.

  1. Sanaz

    Isch liebe diese Geschischte einfach. Hab misch köstlisch amüsiert und auch ein neues Wort gelernt. Grenswäschtegefuhl! Wunsche eusch noch viele viele Lebensjahre, damit isch weitere solsche Geschischten lesen kann.

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