Ich sitze gerade an einer Zeichnung einer Tanzszene, in der sich Ludwig XIV als Baum verkleidet, als ich eine Mail von Leos Schule in meinem Posteingang sehe.
Eine Mail von der Schule enthält meist irgendwelche praktischen Informationen zu einem bevorstehenden Ereignis: Eine Klassenfahrt steht an und es wird eine Onlinekonferenz zum Thema angekündigt. Oder wir bekommen eine Ankündigung von irgendwelchen Materialkosten, die innerhalb der nächsten Woche überwiesen werden sollten.
Diesmal wird mir ein „Verweis“ kommuniziert. Früher bekam man hier einen Brief nach Hause geschickt und ich vermute, dass in dem Briefformat entweder per Post oder per Kind übermittelt einige ganze Sätze standen.
Damals: Ermahnende Briefe von der Schule per Post verschickt
Vielleicht sah das dann so aus:
Liebe Frau und Herr Hoffmann,
wir möchten Ihnen mitteilen, dass Ihre Tochter Isabel zum wiederholten Male den Unterricht stört. Gestern hat sie, nachdem sie zweimal von mir ermahnt wurde, einem Mitschüler mit einem Papierflugzeug ins Auge getroffen.
Wir möchten Sie bitten, nächsten Mittwoch um 13.15 in die Schule zu kommen, um gemeinsam mit mir und dem Direktor über die weitere Vorgehensweise zu beraten.
Hochachtungsvoll
Jutta Fleischmann-Reihert
Ich denke, Frau und Herr Hoffmann haben sich auch damals nicht gefreut über diese Korrespondenz aus der Schule. Immerhin wurden aber die Sachverhalte klar dargelegt und dann gab es ein Gespräch. Heutzutage sieht das manchmal anders aus.
Unentschuldigte Fehlzeiten per Mail kommuniziert
Hier in Barcelona wird inzwischen alles über Mails kommuniziert. Freitags zum Beispiel bekomme ich manchmal eine Mail, in der steht: Information Leo Pfeil unentschuldigte Fehlzeiten: Mittwoch 12.00-13.00: Katalan, 13.00-14.00: Philosophie.
Weiter steht da nichts. Wo war mein Sohn am Mittwoch in diesen Zeiten? Er ist morgens ganz normal um 8.00 zur Schule gegangen und nachmittags um 15.30 wiedergekommen. Was ist dazwischen passiert? Ich muss zugeben, in der Oberstufe habe ich auch das eine oder andere Mal eine Stunde absichtlich verpasst, aber wurden da direkt die Eltern benachrichtigt? Ich glaube nicht, oder erst, wenn das gehäuft vorkam, was zum Glück bei Leo momentan nicht der Fall ist.
Jetzt, mit den neuen Möglichkeiten in Echtzeit alles zu kommunizieren, gibt es keine Geheimnisse mehr. Gut, dass die Fehlstunden erst freitags gemeldet werden und nicht direkt, wenn Leo eine Klasse schwänzt. Oh je, dann bekäme ich evtl. diese Mail an einem Donnerstagmorgen:
„Frau Pfeil, wo ist Ihr Sohn gerade?“
„Oh, ich dachte er ist bei euch…“
Verweise im Telegrammstil
Abgesehen von den Fehlmeldungen versenden die Schulen hier noch andere Mails an die Eltern, sogenannte „Verweise“. Diese Verweise sind irgendwelche Ereignisse, in denen Schüler/Innen sich außerhalb der geltenden Schulnorm verhalten und somit die Lehrer/Innen verärgert haben. Manche Kinder häufen Verweise an, als seien es Fußball-Sammelbilder. Ohne zu wissen, dass es kein Vorteil ist, viele davon zu haben, denn du kannst sie nicht einmal eintauschen. Mehrere Verweise zusammen werden zu einem „Vorfall“, der dann sogar dazu führen kann, tageweise oder ganz von der Schule verwiesen zu werden.
Im Laufe der letzten Jahre hat Leo Verweise angesammelt, aber zum Glück ist es bisher nie bis zum Schulverweis gekommen. Das absurde dieser Verweise ist, dass sie per Mail kommuniziert und mit sehr wenig Worten erklärt werden, sozusagen im Telegrammstil.
Heute steht in der Mail:
Leo Pfeil, Verweis:
25.01.2022 / 10.13 Uhr /
Benutzen von Lehrercomputer zwecks Video- Musikhörens in Abwesenheit.
Dieser eine Satz. Was soll ich damit anfangen? Mein Sohn hat den Computer des Lehrers benutzt, das klingt auf jeden Fall erstmal verboten. Von wessen Abwesenheit ist die Rede? War mein Sohn während des Musikhörens abwesend? Oder ist hier die Lehrerin gemeint?
Das verrückte an den Verweisen ist, sie werden einfach so verschickt, kurz nachdem etwas passiert, aber es gibt keinerlei weitere Handlungsaufforderung. Kein: „Setzt euch bitte mit dem Lehrer in Verbindung“, oder: „Redet bitte mit dem Kind, das geht so nicht weiter.“
Ich sitze hier also über meinen Zeichnungen und habe keine Ahnung, ob das jetzt ein bisschen blöd war, mittel schlimm oder totale Katastrophe. Ich schreibe eine Nachricht an Leo:
„Was ist los in der Schule, was hast du gemacht?“
„Nichts“, ist seine Antwort
„Ich habe aber einen Verweis von der Schule geschickt bekommen.“
„Ach so, das. Wir hatten eine Vertretung und haben, als sie draußen war ein bisschen Musik gemacht. Das machen wir immer, aber die Lehrerin dachte, das sei schlimm.“
Ich lese zwischen den Zeilen, dass es vermutlich nicht sehr schlimm war, aber auch nicht ganz so harmlos, wie es mein Sohn schildert. Wenn Lehrer nicht im Raum sind, dürfen die Jugendlichen Clubatmosphäre über den Computer des Lehrers herstellen? Nein, das glaube ich nicht, was mir später von Leos Lehrer auch bestätigt wird.
Dieser teilt mir auf Nachfrage mit, dass die Schüler das bereits mehrmals gemacht hatten, es aber auch vorher nicht erlaubt war. Ich werde wohl nochmal mit Leo darüber reden.
Mein Lieblingsverweis bisher: Umarmung einer Museumsfigur
Vor zwei Jahren bekam ich folgenden Verweis von der Schule:
12.02.2020 / 13.57 Uhr / Besuch Meeresmuseum
Umarmung einer Museumsfigur. Wurde von Lehrerin Irma Lerma-Sanchez ermahnt. Verhalten wiederholt. Mahnung von Museumspersonal.
Ich kann mir das hysterische Lachen nicht verkneifen und sehe die Situation bildlich vor mir: Mein Sohn in inniger Umarmung mit einer steinernen Meerjungfrau oder mit einer Riesenkrake! Ich bekomme ein schlechtes Gewissen als Mutter, weil ich denke, dass es irgendwie nicht nach guter kultureller Vorbereitung durch die Eltern aussieht, wenn ein Kind das macht. Kinder, die jede Woche mit ihren Eltern ins Museum gehen, umarmen vermutlich keine Skulpturen dort. Bei Leo bin ich mir allerdings auch dessen nicht wirklich sicher.
Auch dieses Ereignis hat mein Sohn damals sehr wenig dramatisch dargestellt:
„Ach das meinst du! Da habe ich doch nur einen Spaß gemacht. Der Museumswärter hat mit uns gelacht!“
Es wird wohl immer eine gewisse Grauzone der Interpretation geben zwischen dem geschriebenen Wort, der Geschichte meines Sohnes und dem, was ich dann daraus mache. Meist ist es hilfreich, mit dem Lehrer oder der Lehrerin nochmal darüber zu reden.
Die besondere Poesie der Schulverweise
Bisher waren die meisten Verweise wegen Handy im Unterricht benutzen, oder zu viel mit dem Nachbarn quatschen. Bei einem Jungen mit fast 17 Jahren bin ich inzwischen einiges gewohnt und doch immer wieder überrascht, manchmal auch erschreckt, was es noch Neues geben kann.
Heute schaue ich besonders auf die spezielle Poesie dieser Verweise. Das hilft mir nicht bei dem Gefühl „Was habe ich als Mutter falsch gemacht?“ zu verharren. Vielleicht wäre es eine gute Idee, Verweise von vielen Jugendlichen und Kindern zu sammeln und diese als Buch zu verlegen. In verzweifelten Momenten, in denen so ein Verweis ins Haus segelt, nehme ich mir dann bei einem Glas Wein das Buch zur Hand und finde Verweise, die noch viel absurder sind als die meines Sohnes.
An alle Mütter, Väter und anderen erziehungsberechtigten Personen, die diesen Text lesen: Verzweifelt nicht an den Schulverweisen! Redet mit euren Kindern darüber und versucht herauszufinden, was passiert ist. Lasst uns austauschen über die absurden Verweistexte, die entstehen, wenn Lehrer/Innen in einem Satz per Mail die Ausrutscher unserer Kinder kommunizieren.
Mich beruhigt immer wieder, wenn berühmte Menschen, zum Beispiel Schauspieler, die ich verehre, von ihrer holprigen Schullaufbahn berichten. Leider heißt das nicht im Rückschluss, dass jede holprige Schullaufbahn zu einer fantastischen Karriere führt. Ich finde aber, es gibt Hoffnung und entlastet ein bisschen.
Ludwig XIV konnte sich jedenfalls als erwachsener Mann als Baum verkleiden, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hatte. Ich vermute, wenn er als Kind zu einer Regelschule in der heutigen Zeit gegangen wäre, hätte seine Mutter öfter einen Verweis geschickt bekommen. Vielleicht hätte das dann so ausgesehen:
Verweis Ludwig XIV/ 10.02.2022/ 9.28 Uhr
Wiederholtes Verkleiden der Mitschüler mit Gardinen im Klassenraum. Trotz mehrmaliger Vermahnung Aufführung absurder Tanzszenen. Versuchte Kündigung der Lehrerin bei Tragen von Sonnenmaske.
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