Aus dem Leben einer Mutter im Süden

Pfeilsenderstories

Ausgeraubt bis aufs Hemd in Barcelona

Hochsommer Ende der 90er und ich war ein paar Tage alleine in meiner WG. Barcelona im August, die Stadt wie ausgestorben. Ich ging abends etwas trinken mit Leuten aus meinem Photoshopkurs. Ich erinnere mich besonders an Paco den widerspenstigen Poeten. Paco hatte all meine Symphatien, weil er sehr speziell war. Er bewegte sich irgendwo zwischen schwierig, lustig und sehr intelligent, eine ideale Kombination wie ich damals fand! Manchmal schrieb er kleine Texte und gab sie mir zu lesen. Da mein Spanisch noch nicht sehr gut war und Paco sehr frei und assoziativ schrieb, verstand ich meist kaum etwas und kam enorm unter Druck, wenn er mich fragte, wie ich seinen Text fand.

Ein abendlicher Wein im „La vinya del Senyor“

Wir saßen also draußen in einem Weinlokal, das „La vinya del Senyor“ heißt, aus dem katalanischen übersetzt „der Weinberg des Herrn“. Tatsächlich kann man in diesem Lokal himmlische Weine trinken und das direkt vor der wunderschönen Hauptfassade meiner Lieblingskirche: „Santa Maria del Mar“.

Im 14. Jahrhundert gebaut, inmitten im Seefahrer und Handwerksviertel „la Ribera“ war die Kirche ein Ort, wo Matrosen und Seeleute beteten, um bei der nächsten Seefahrt wieder lebend und gesund Heimzukehren.

Santa Maria del Mar und die „Bastaixos“

Aus den Erzählungen des Romans „die Kathedrale des Meeres“ von Ildefonso Falcones hat mich besonders beeindruckt, dass die großen Steine für die gotische Kirche von sogenannten „Bastaixos“ auf dem Rücken transportiert wurden. Meist wurden diese Steine vom Steinbruch im Montjuic geholt, teilweise auch vom Hafen aus transportiert. Die „Bastaixos“ waren ursprünglich Hafenarbeiter, die als Sklaven arbeiteten. Bei dem Bau der Santa Maria del Mar waren diese Arbeiter inzwischen frei, machten diese Arbeit aber gratis bzw. für eine Mahlzeit und wie es scheint freiwillig. Im Unterschied zu der großen Kathedrale Barcelonas, die vom Königshaus finanziert wurde, ist die „Santa Maria del Mar“ eine Kirche, finanziert von den reichen Kaufleuten des Viertels la Ribera und gebaut von den lokal ansässigen Handwerkern.

Innen ist die Kirche beeindruckend, hell und riesig. Ich mag den Kontrast der schlichten hohen Mauern mit den wunderbar bunten Fenstern. Für viele der hoffnungsvollen Seefahrer wurde hier ihre letzte Messe gehalten. Wie viele dramatische Geschichten wohl in diesen Mauern erzählt wurden?

Mein Rucksack ist weg!

Einen Wein mit Blick auf die Kirche zu trinken ist jedenfalls auch heute noch ein Erlebnis. Als der Abend sich dem Ende neigte und wir unsere letzten Peseten zusammensuchten, merkte ich, dass mein Rucksack nicht mehr da war. Eben noch hing er über meiner Stuhllehne direkt an meinem Körper und jetzt war er weg! Ich suchte panisch unter dem Tisch, daneben und langsam merkte ich: Mein Rucksack wurde geklaut und obwohl wir alle im Kreis eng beieinander saßen, hat es niemand gemerkt! In meinem Rucksack war alles: Mein Haustürschlüssel, mein Geld, meine Papiere.

Taschendiebe brechen meist nicht in Wohnungen ein…

Ich war unterwegs mit Menschen, die ich nur flüchtig kannte, niemand war bei mir zu Hause und es gab keinen Ersatzschlüssel. Ich trug ein leichtes Sommerkleid und das war alles, was mir blieb. Dann gingen wir zur Polizei, die die Anzeige aufnahm und mir mitteilte, dass man nicht viel machen kann. Zu meiner Befürchtung, dass in meine Wohnung mit dem Schlüssel eingebrochen werden kann, sagte ein Polizist, dass die Taschendiebe, meist nicht in Wohnungen einbrechen. Das sind also irgendwie andere Gaunerabteilungen, immerhin! Wir waren alle müde und die ersten verabschiedeten sich. Paco und ich blieben als letzte übrig.

Im Wollpullover bei 40 Grad!

Paco bot mir an, bei ihm zu übernachten und ich nahm dankend an, denn ich hatte keine einzige Alternative. Schließlich fuhren wir mit Pacos Metroticket in seine Wohnung in Gracia, einem schönen Wohnviertel mit vielen kleinen Plätzen. Vor der Altstadterweiterung war Gracia ein Dorf in der Nähe Barcelonas inzwischen liegt es mittendrin. Leider wohnte Paco nicht an einem der schönen Plätze, sondern an einer der wenigen Hauptverkehrsschneisen. Die Wohnung war: klein, laut und unglaublich heiß! Weil mein Kleid nach einem Tag Sommerhitze auch völlig verschwitzt war, bat ich Paco um ein Kleidungsstück zum Schlafen. Ich dachte an ein großes T-Shirt, aber Paco der Poet brachte mir: einen Wollpullover!

Ich war jung, dankbar und sehr auf Pacos Hilfe angewiesen, also zog ich den Wollpullover an. Von draußen hörte ich lautes Hupen, Bremsen und den Lärm überholender Motorräder. Dabei lag ich bei gefühlten 40 grad in einem Wollpullover in einer kleinen Kammer voller Bücher und Bücherkisten. Ich war froh, als am nächsten Tag die Sonne aufging, zog mir mein Sommerkleid an, bedankte und verabschiedete mich von Paco und lief in die Stadt.

Selbst die Obdachlosen haben mehr als ich

Alles war besser als noch einen Tag in dieser Wohnung zu verbringen. Immerhin hatte ich die Hoffnung, dass am Abend Luis, mein Mitbewohner wiederkam. Meine zweite große Hoffnung war, dass niemand inzwischen mit meinem Schlüssel in unserer Wohnung eingebrochen war. Ich malte mir aus, dass Luis in eine völlig ausgeräumte Wohnung kommt und hatte große Bedenken, dass unsere Freundschaft hier enden würde. Es war die Zeit ohne Handys, ich konnte ihn also nicht einmal vorwarnen.

Ich erinnere mich noch an das Gefühl, nichts zu besitzen. Es war beunruhigend keinen Pfennig Geld in der Tasche zu haben aber auch irgendwie unbeschwert. Ich war frei und hatte keinerlei Ballast im Leben, keinen Schlüssel, der mich mit irgendetwas verbindet bzw. Verantwortung für mich bedeutete.

Mein Kleid inzwischen mehrere Male verschwitzt und wieder getrocknet klebte wie ein schmutziges Brett an mir. Ich sah Vagabunden in der Stadt und fühlte mich mit ihnen verbunden, ich war jetzt eine von ihnen geworden. Meist hatten sie mehr als ich, zum Beispiel einen Hund oder eine Flöte. Womit konnte ich mein Geld verdienen? Erstmal ging ich spazieren durch die Stadt und machte mich mit meinem neuen zu Hause vertraut. Nach ein paar Stunden hatte ich sehr großen Hunger, war aber noch nicht so weit, Container nach Essbarem zu durchsuchen. Ich dachte an die „Bastaixos“, die Steinträger der „Santa Maria del Mar“-Kirche. Wäre mir dasselbe im 14. Jahrhundert passiert, könnte ich jetzt schnell ein paar Steine zur Kirche schleppen und am Ende des Tages eine warme Suppe dafür bekommen. Auch das klang nicht gerade unbeschwerlich.

Ein Bekannter wird mein Glücksengel!

In meine Gedanken vertieft, hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Vor mir stand Pep, ein Freund meiner Freunde, den ich nur flüchtig kannte. Was für ein Glück ein vertrautes Gesicht zu sehen!

Den Tränen nahe, erzählte ich dem freundlichen Pep meine Geschichte und er zögerte nicht eine Sekunde und schenkte mir ein Metroticket und 1000 Peseten. Das waren damals ungefähr 12 DM und war meine Rettung. Plötzlich hatte ich Geld für Wasser und sogar Essen! Pep war mein Glücksengel und ich werde ihm diese große Geste nie vergessen.

Mit dieser Grundausstattung wurde ich plötzlich wieder zu einem Menschen.

Nie wieder im Leben habe ich 12 DM so zu schätzen gewusst wie an diesem Tag. Den Rest des Tages verbrachte ich im Schatten von Bäumen im Park, ging durch die Stadt spazieren und trug dabei in einer Tüte meine Schätze: Obst, Wasser, Kekse und das Metroticket.

Ist meine Wohnung ausgeraubt?

Gegen Abend lief ich dann zu meiner Wohnung und bat einen Nachbarn, mir die Tür zur Straße zu öffnen. Es war noch niemand zu Hause und ich wartete erschöpft und müde im Treppenhaus vor meiner Haustür. Als Luis endlich zu Hause ankam, fiel ich ihm überglücklich in die Arme. Richtig entspannt war ich allerdings erst, als Luis die Tür aufschloss und alle Möbel noch an ihrem Platz standen. Der Polizist hatte Recht behalten. Im Nachhinein überlege ich, wie das wohl alles für Luís war? Gerade von einer Wochenendfahrt zurück, triffst du deine deutsche Mitbewohnerin, die aussieht und riecht als würde sie seit Tagen auf der Straße leben und dir erzählt, dass beinahe deine Wohnung ausgeraubt wurde. Wie viel Geduld er damals mit mir hatte!

Wo lernen Taschendiebe?

In den darauffolgenden Jahren wurde ich noch öfter beklaut und es gab Situationen, in denen ich nach meiner anfänglichen Wut eine Art Anerkennung für die Diebe entwickelte. Einmal hat es ein Taschendieb geschafft, mir aus einer Handtasche, die ich am Körper trug, ein Portemonnaie zu stehlen, und musste dabei 3 Reißverschlüsse öffnen. Die Tasche hing vor meinem Bauch und ich habe nichts davon gemerkt! Gibt es Taschendiebschulungen? Werden diese Fähigkeiten von Eltern an ihre Kinder weitergegeben? Zum Glück bin ich noch nie brutal beraubt worden. Leider gibt es auch das vermutlich in den meisten Großstädten dieser Welt und es muss furchtbar sein, wenn einem das passiert.

„Polizei“ in vielen Sprachen

In meiner letzten Wohnung in Barcelona vor der Markthalle Santa Caterina hatte ich meinen Arbeitstisch direkt vor dem Balkon. Unten auf dem großen Marktvorplatz war immer viel los, ich hörte Stimmen von den Restaurantterrassen, das Ave Maria einer Opernsängerin rauf und runter und lautes Krachen beim Be- und Entladen der LKW’s für den Markt. Dann plötzlich hysterische Schreie und ich wusste: ein Tourist oder eine Touristin wurde beklaut. Ich habe das Wort Polizei in sehr vielen verschiedenen Sprachen gehört in dieser Zeit.  Vom Balkon aus konnte ich sehen, wie unterschiedlich Menschen reagieren, wenn sie bestohlen werden. Manche bleiben stehen und sind verwirrt und geschockt. Andere schreien, zeigen auf den Dieb und hoffen, dass die Umstehenden etwas tun. Manche schreien und schicken ihren Partner auf Verfolgungstour. Andere rennen ohne zu zögern los, dem Dieb auf den Fersen.

Am schönsten fand ich immer, wenn plötzlich ganz viele der Umstehenden hinter dem Dieb herrennen, wie bei einer Kettenreaktion. Ich wollte dann auch gerne mitrennen, aber ehrlich gesagt, wüsste ich gar nicht, was ich machen soll, wenn ich den Dieb erwische. Ich würde wahrscheinlich freundlich fragen, ob er mir bitte wiedergeben könne, was er gerade jemandem anderen weggenommen hat. Dann würde er vermutlich „ja gerne“ sagen, mir alles geben und verschwinden.

Vielleicht.

  1. Fritzchen

    Liebe Stefanie, Du hast ja ein aufregendes Leben. Man stellt fest, dass Dich so schnell nichts aus dem Gleichgewicht bringt.

    Du beschreibst die Stadt Barcelona so lebendig, dass man Lust bekommt, selbst in den Gassen der Stadt lustzuwandeln. Weiter im Text! Danke!

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