Aus dem Leben einer Mutter im Süden

Pfeilsenderstories

Alte Heimat, neue Heimat

Ich sitze hier an meinem Schreibtisch, das Thermometer zeigt 32 Grad und meine Ferien sind zu Ende. Wie jeden Sommer war ich mit meinem Sohn in meiner alten Heimat, Nordhessen. Abgesehen von dem wunderbaren Wiedersehen mit Familie und Freunden hat uns Deutschland mit Regen begrüßt und auch verabschiedet.

Andere Menschen fliegen auf eine griechische Insel oder fahren zur Erholung an die Ostsee und wir? Nordhessen!

Danach kommen wir im August von einem Deutschland, wo bereits herbstliche Temperaturen herrschen, zurück in die Tropen. Jedes Jahr, wenn ich in Barcelona aus dem Flugzeug steige, habe ich das Gefühl, jemand hält mir einen heißen Föhn ins Gesicht. Hier habe ich dann das, was andere im Urlaub suchen; das Meer um die Ecke, große Hitze und Bars und Restaurants, wo viele schöne Menschen bis spät in die Nacht zusammensitzen und das Leben feiern.

Meine alte Heimat Nordhessen

Was ist es denn, was mich Jahr für Jahr in meine alte Heimat fahren lässt? An erster Stelle stehen ganz klar Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle und von denen ich viele sehr gerne hier in Barcelona um die Ecke hätte. Wenn ich den ersten Spaziergang in meinem Heimatort über den kleinen Hügel hinterm Haus meiner Eltern mache und oben auf dem Berg inmitten von Blumenwiesen und Feldern stehe, atme ich tief durch und fühle Heimat. Ich fahre mit dem Fahrrad um die Badeseen des Ortes, wo ich studiert habe, überall wird gegrillt und gebadet, trotz des grauen kalten Wetters. Mir wird ganz warm ums Herz bei diesem Bild.

Ich fotografiere Holzhütten für Wanderer, die wie kleine Legosteine überall an Waldrändern auftauchen. Innen haben sie manchmal Spuren lokaler Handwerker und Künstler. Bei einer der Hütten sind die Tiere des Waldes in die Wand geschnitzt. Das Eichhörnchen sieht aus wie eine Ratte mit Federboa! In einer anderen Hütte finde ich ein Gästebuch für Wanderer mit einem aufwendig gearbeiteten Ledereinband. Das liegt da einfach so rum in einer Holzkiste und es bleibt auch dort liegen, unglaublich!

Es ist die Zeit der Blumen- und Erdbeerfelder, wo man sich so viel pflücken kann, wie man mag und dann in eine Box Geld steckt nach eigenem Ermessen. Wenn ich meinen Freunden in Barcelona davon erzähle, kann man mir kaum glauben. Hier würde das Geld vermutlich gestohlen werden und ich vermute, dass auch in Deutschland manchmal nichts oder zu wenig bezahlt wird. Aber das System funktioniert und mich erfüllt das mit Freude. Eigenverantwortung, die funktionieren kann, ist das auch etwas, was meine Heimat ausmacht?

Ich fahre ein paar Tage aufs Land mit einer Freundin und wir laufen über Wiesen, die wegen dem vielen Regen so weich sind, dass wir barfuß wandern können. Wir laufen neben kühlen schattigen Bächen und kommen an tiefgrünen Seen vorbei, Libellen fliegen wie kleine Hubschrauber über das Wasser. Der Wald in Deutschland ist immer wieder beeindruckend für mich: Der Boden torfig und weich, die Bäume dicht und beim hereingehen wird es dunkel, obwohl heute ausnahmsweise die Sonne scheint. Es ist dunkel und es riecht nach Wald. Ich kann die Angst vor dem Wald verstehen, die wir überall in der Literatur finden und die mich besonders bei den Märchen der Gebrüder Grimm fesselt.

Wälder sind hier als dunkle, geheimnisvolle und gefährliche Orte beschrieben. Wenn ein Kind alleine oder mit einem Schwester- oder einem Brüderchen in den Wald geht, nimmt das oft kein gutes Ende. Es gibt so viele Dinge, die Heimatgefühle in mir auslösen. Der Apfelstreuselkuchen meiner Mutter am Nachmittag gehört auf jeden Fall auch dazu.

Auswandern aus Not oder Abenteuerlust

Teile meiner Vorfahren mütterlicherseits sind unter Katerina der Großen nach Russland ausgewandert. Damals ging es darum, dem sehr armen Deutschland zu entfliehen und sich eine neue Existenz aufzubauen. Es war ein Auswandern aus Not, aber vielleicht war auch ein bisschen Abenteuerlust mit dabei. Faszinierend waren für mich die Geschichten, die ich als Kind von meinem Opa gehört habe. In Russland geboren musste er als junger Mann wieder aus der Not mit seiner Familie zurück in die alte Heimat fliehen. Mit Pferdewagen und zu Fuß und der ganzen Familie. Eine Heimat, die er nur aus Erzählungen kannte und die in seiner Phantasie bestimmt unglaublich schön war.

Ist ein bisschen von dieser familiären Abenteuerlust in mir? Von der Idee, überall in der weiten Welt eine zweite Heimat aufbauen zu können? Wie fühlt sich Heimat für mich an?

Es ist das Gefühl anzukommen, durchzuatmen und ein kleines inneres Glück zu spüren, kein euphorisch wildes, sondern ein ruhiges und entspanntes Glück. Manchmal mischt sich bei mir dazu noch eine Portion Nostalgie und das Gefühl von Abschied. Ich habe eine alte Heimat meiner Kindheit und Jugend und meines jungen Erwachsenseins in Deutschland. Dann gibt es meine Heimat hier in Barcelona, wo ich seit 25 Jahren lebe, fast die Hälfte meines Lebens und die längste Zeit meines Erwachsenseins. Mein Sohn ist hier geboren und aufgewachsen und wichtige Freunde leben hier. Ich fühle mich hier zu Hause und verbunden und ich liebe es, mit dem Fahrrad zum Meer zu fahren. Die spontane lustvolle Energie der Stadt und ihrer Bewohner ist einfach wunderbar!

Die Sehnsucht nach der alten Heimat

Als junger Mensch habe ich das Abenteuer gesucht und mit dem Gefühl gelebt, ich kann jederzeit da leben, wo ich leben möchte. Im Laufe der Jahre hat sich Barcelona zu meiner Heimat entwickelt und inzwischen bin ich mit beiden Welten sehr stark verbunden.

Für mich ist es nach wie vor ein großes Geschenk, diese beiden Orte zu haben, wo ich mich zu Hause fühlen kann. Was für ein Luxus! Die Trauer und Nostalgie wird allerdings bei jedem Abschied von Deutschland größer und egal für welche Heimat ich mich entscheide, sehne ich mich immer ein bisschen nach der anderen.

Ich lebe in Barcelona und ein bisschen Sehnsucht nach der alten Heimat ist mein ständiger Begleiter. Die Eltern werden älter und die räumliche Entfernung scheint größer. Als ich als junge Frau hierherkam, habe ich eine ältere Dame aus Deutschland kennengelernt, die eine Sprachschule in Barcelona hatte. Sie sprach ein Deutsch gespickt mit übersetzten spanischen Redewendungen und wirkte dabei sehr liebenswert und schrullig. Vielleicht entwickele ich mich auch nach und nach in so eine schrullige Lady. Ich glaube bisher ist mein Deutsch relativ flüssig, aber vielleicht hat sie das damals auch geglaubt.

Enkelkinder in Timbuktu

Wenn ich an Heimat denke, dann denke ich auch an meinen Sohn, dessen Eltern aus zwei verschiedenen Kulturen kommen. Geboren und aufgewachsen ist er in einem Land, das für beide Elternteile nur die zweite Heimat ist. Wenn deine Eltern aus zwei verschiedenen Kontinenten kommen, wird dann die ganze Welt zu deiner gefühlten Heimat?

Manchmal denke ich, wenn er wie ich diesen Drang danach hat, die Welt kennenzulernen gepaart mit seiner Biografie, werde ich möglicherweise einmal meine Enkelkinder in Timbuktu besuchen können. Vielleicht hilft er auch irgendwann bei Ausgrabungen in der Wüste Turkmenistans, eröffnet einen Campingplatz in Malawi oder liegt in einer Hängematte unter Palmen auf den Kokosinseln?

Wenn ich daran denke, bin ich gespannt und erfreut über so viel mögliche Abenteuerlust meines Sohnes und werde gleichzeitig auch ein bisschen melancholisch. Denn wenn er sich einmal von seiner Neugier auf die Welt leiten lässt, ist er vermutlich sehr, sehr weit weg von dem Ort, wo ich lebe.  Heute denke ich daran, wie es wohl für meine Eltern war, als ich mit 26 Jahren entschieden habe, in einem anderen Land zu leben.

Überraschend war es damals für uns alle, dass ich dann tatsächlich dort geblieben bin! Wie großzügig von ihnen, mir immer die Freiheit gelassen zu haben, mir meine Heimat selber auszusuchen. Nie haben sie mir Vorwürfe gemacht oder mich gebeten, wieder nach Deutschland zu kommen. Genau diese Freiheit macht das nach Hause kommen um so schöner, und die Sehnsucht nach der alten Heimat größer.

Vermutlich ist ganz viel meiner Heimat bei mir im Kopf und im Herzen und reist immer dahin mit, wo ich gerade bin. Übrigens: Die Hängematte unter Palmen auf den Kokosinseln klingt als Altersresidenz auch nicht unattraktiv…

  1. Fritzchen

    Es war für mich eine große Freude diese gelebte Storie über Heimat und Lebenserfahrungen zu lesen. Die Heimat ist im Kopf und im Herzen. Dein Artikel tröstet vielleicht Menschen die meinen keine Heimat zu haben. Danke dafür.

  2. Andrea Pfeil

    Eine wunderschoene Geschichte, Stefanie, aber eigentlich ist es ja eher ein Gedankenflug, da klingt bei mir auch ganz viel an, sowas auch schon mal ähnlich gefühlt und gedacht zu haben. Aber es dann auch so schreiben zu können!!!! Da macht das Lesen Spaß!

    Andrea

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