Endlich! Ein langes Wochenende und wir fahren in die Natur. Wie wunderbar! 4 Tage zu Fuß oder mit dem Rad zwischen Reisfeldern Vögel beobachten. Das ist genau das, was ich jetzt brauche! Ruhe und Erholung und ganz flache Landschaften, die dünn besiedelt sind. Es gibt kein Autogehupe, keine Menschenansammlungen, es ist fast perfekt.
Erholung inmitten von Flamingos im Ebro Delta
Das Ebro Delta, im Süden Kataloniens gelegen, ist ein Schwemmlandgebiet der Mündung des Flusses Ebro ins Mittelmeer. Auf drei Vierteln der gesamten Fläche wird Reis angebaut. Bei diesen überschwemmten Feldern reise ich innerlich nach Vietnam oder in andere asiatische Länder, die ich mit Reisanbau verbinde. Es gibt unglaublich viele Vogelarten und es ist keine Seltenheit, dass plötzlich ein ganzer Schwarm Ibisse über dich hinweg fliegt. Am meisten haben mich die vielen Flamingos beeindruckt, die mit ihrer ganz besonderen Eleganz auf einem Bein in den flachen Gewässern stehen. Eigentlich fühle ich mich wie inmitten eines Tierdokumentarfilms. 300 Flamingos anzuschauen, die sich keinen Zentimeter bewegen, höchstens um einmal mit ihrem Schnabel etwas Leckeres aus dem Wasser zu picken, ist unglaublich beruhigend!
Ich war nicht alleine dort. Freunde von uns hatten uns freundlicherweise mitgenommen. Eine Freundin und ein Freund von mir mit ihrem jugendlichen Sohn, der langjähriger Freund von meinem Sohn Leo ist. Die beiden sind sozusagen zusammen aufgewachsen. Wir haben zwei kleine Apartments, die jeweils aus einem Raum bestehen und ein Auto. Fünf Personen und der kleine Hund, Puc.
Als wir ankommen, stürmt es draußen so sehr, dass uns der Sand in die Augen peitscht und wir nur mit unglaublicher Anstrengung wenige Meter gegen den Wind vorwärtskommen. Die Apartments wirken verlassen und es ist niemand da, der uns die Schlüssel gibt.
Ich komme mir vor wie in einem David Lynch Roadmovie. Der Sturm wütet laut und wir kommen nicht in unsere Wohnung. Auf meinem Ausdruck des Appartments stehen viele Telefonnummern, einige davon mit Schweizer Vorwahl. Da, ich entdecke eine spanische Nummer und wir haben das große Glück, dass jemand antwortet und uns einen Safe-Code gibt, in dem unsere Schlüssel stecken. Buf, das wäre geschafft!
Gemeinsame Unternehmungen mit zwei Jugendlichen
Die eine oder der andere fragt sich bestimmt, warum ich anfangs „es ist fast perfekt“ geschrieben habe? Ich bin sehr erholungsbedürftig und teile mir einen Raum mit meinem jugendlichen Sohn. Mein Sohn redet laut, geht spät schlafen und will oft irgendetwas oder er will etwas nicht, was alle anderen wollen. Wenn ich ihn um Ruhe bitte, behält er das ungefähr 10 Minuten im Kopf und dann hat er es vergessen. Er ist kein gemeiner Kerl, sondern er vergisst es wirklich, und dann ist er wieder laut. Leo weiß, dass ich erholungsbedürftig bin und ich glaube, er gibt sich Mühe leise zu sein, innerhalb seiner Möglichkeiten.
Der Sohn meiner Freunde ist es gewohnt, viel mit seinen Eltern gemeinsam zu unternehmen. Leo hat schon seit Jahren nicht mehr oft Lust dazu. Da wir uns ein Auto teilen, ist die Idee unserer Freunde, tagsüber Dinge zusammen zu machen. Das macht auch Sinn, denn selbst um Fahrräder zu leihen, müssen wir erstmal eine Strecke mit dem Auto fahren.
„Müssen wir dauernd was zusammen machen?“ Fragt Leo genervt.
Er beschwert sich laut, der Familienvater Gerard ist frustriert. Frustriert von meinem undankbaren Sohn und vermutlich auch von Andreu, denn Leo hat ihn mit auf die dunkle Seite gezogen. Meine Position ist nicht ganz klar, denn ich verstehe, dass Leo mehr Zeit alleine mit Andreu will, ich verstehe aber auch Gerard. Sein Sohn macht immer noch gerne Familienunternehmungen mit und dann kommt so ein lauter Leo, und stellt das andauernd infrage!
Radtour mit Hindernissen
Wir entscheiden, eine gemeinsame Fahrradtour zu machen.
Ich versuche zu schlichten, vom Fahrrad aus rechts und links die Flamingos zu genießen und mich dabei richtig gut zu erholen. Nacheinander springen den Jungs die Fahrradketten ab, das Fahrrad von Leos Freund ist eine Zumutung und wird uns schließlich auf halbem Weg ersetzt.
Die Jungs reden sich die ganze Zeit gegenseitig mit Schimpfwörtern an. Manchmal tun sie auch so, als würden sie sich schlagen, oder sich an die Gurgel gehen. Die Dialoge sind ungefähr so:
„Halt mal an, du Arschgesicht!“
„Weißt du eigentlich, dass niemand dich mag, nicht mal deine Mutter?“
„Hey Blödmann, hör mal auf zu reden, das interessiert keinen!“
Da mein Sohn so eine laute Stimme hat, höre ich immer nur ihn. Seinen Freund sehe ich dabei grinsen, ich habe großes Mitleid mit ihm.
Später rede ich mit Leo und er sagt mir, Andreu rede genauso mit ihm. Wenn Leo in sein Apartment ginge, würde der Freund zu seinen Eltern rufen:„Da steht ein Schwarzer an der Tür, schließt schnell ab, der will uns bestimmt ausrauben!“
Okay, ich sehe beide spielen in der gleichen Liga, mein Mitgefühl mit Andreu schwindet.Zwischendurch halten wir an einem Restaurant, um eine Kleinigkeit zu essen. Unsere Jungs suchen sich gerne die besten Restaurants aus und möchten die Karte hoch und runter bestellen. Wir Eltern hingegen bestellen viele kohlenhydrathaltige Beilagen, damit die beiden jungen Herren satt werden und wir kein Vermögen bezahlen müssen. Leos Fahrrad lehnt am Baum, die Kette hängt lose herunter.
Hilfe, ich finde meinen Sohn doof!
Nachdem mein Sohn wieder einmal gefragt hat, wie lange denn diese Unternehmung noch dauert, redet Gerard, der Freund von mir, kaum noch. Meine gutmütige Freundin Berta ist weiterhin guter Dinge und wir unterhalten uns weiter. Das Gespräch beim Essen kommt auf eine Grundschulmitschülerin der Jungs, die Hip-Hop tanzt und kleine Videos davon ins Netz stellt. Sie hat einen sehr eigenen Stil und ich sage, dass ich sie richtig gut finde.
„Oh nee, die tanzt total Scheiße! Sie war auch in der Grundschule schon komisch, irgendwie tickte die nicht ganz richtig.“ sagt Leo.
Da fällt auch meiner Freundin Berta nichts mehr Freundliches ein. Mir bleibt das Tomatenbrot im Halse stecken, nur ein Gefühl bleibt: Ich finde meinen Sohn doof. Ich finde ihn unsympathisch und mag es nicht, wie er über andere Menschen redet. An dem Tag gibt es noch mehrere Situationen, in denen er sehr abwertend über andere redet und sich selber in sehr gutem Licht darstellt. Ich merke, mir fällt es gar nicht so leicht klarzukommen mit dem Gefühl, meinen Sohn unsympathisch zu finden. Als wir alleine sind, rede ich mit Leo und sage ihm, wie abwertend ich seine Kommentare über andere Menschen finde. Er sagt, ich übertreibe maßlos und ich merke, er hat wirklich keinerlei Ahnung, wie niederschmetternd seine Kommentare auf andere wirken können.
Narzisstische Selbstüberschätzung Jugendlicher, keine Seltenheit
Nachdem ich mit meiner schlauen Schwester Tage später darüber spreche, macht sie mich als Expertin darauf aufmerksam, dass narzisstische Selbstüberschätzung zu einer gesunden Adoleszenz dazugehören. Manchmal ist auch die Abwertung anderer mit im Spiel. Viele Jugendliche sehen sich selber in diesem Alter als zukünftige Oskar-Gewinner/-innen, Olympiasieger/-innen oder großartige Wissenschaftler/-innen und Nobelpreisträger/-innen. Manche tragen diese Vorstellung leise mit sich und andere, zu denen gehört Leo, posaunen es heraus.
Wobei es auch bei ihm große Schwankungen gibt. Mal sieht er eine großartige Zukunft als Schauspieler und Oskar-Gewinner vor sich und mal findet er Abi-machen muss doch gar nicht sein, und eigentlich könnte er doch gleich mit Arbeiten auf dem Bau beginnen.
Ich habe es jetzt etwas besser verstanden, was da in seinem Kopf gerade los ist. Darf ich als Mutter meinen Sohn trotzdem auch mal doof finden? Ich glaube, ja. Immerhin findet er mich ja auch ziemlich oft doof und zeigt mir das auch. Vermutlich findet er mich sogar wesentlich häufiger doof und peinlich als ich ihn.
Die Sonne geht unter und spiegelt sich in hunderten von Gelb- und Rottönen im Ebro Delta. Flamingos stehen völlig unbeeindruckt auf einem Bein davor. Irgendwo habe ich gelesen, dass diese eleganten, beeindruckenden Tiere sogar tot noch auf einem Bein stehen können! Ich glaube, ich kann Ausdauer und Geduld von den Flamingos lernen. Ich atme tief durch und merke, dass ich mich trotz allem auch ein bisschen erholt habe.
Esther Sandersfeld
Herrlich geschrieben, und ehrlich, liebe Steffi! Das ist so sympathisch an deinen Erzählungen, und natürlich erkenne ich mich ganz oft auch selbst wieder… und erinnere mich an Irrungen & Wirrungen mit den Töchtern.
Gute Nacht 🙂
Stefanie Pfeil
Wie schön, danke! Gemeinsam kommen wir da alle besser durch