Fast 30 Grad ist es in meiner Wohnung und das um 8.00 Uhr morgens. Der Sommer beginnt und es ist bereits anstrengend heiß. Genau wie in meinem ersten Sommer in Barcelona. Als ich hier herkam, hatte ich zwei Kontakte aus Kassel im Gepäck. Einer davon von einer Französin, inzwischen gute Freundin, die ungefähr zeitgleich wie ich nach Barcelona zog und der zweite Kontakt war Oliver. Damals Deutschlehrer hier an einer Privatschule, sehr kreativ und lustig, wohnte Oliver mit seinem Mitbewohner, einem kubanischen Tangotanzlehrer in einer Dachwohnung in Barcelona.
Ein „Sobreatico“, über den Dächern der Stadt
Diese Dachwohnung mit großer Terrasse war ein typischer Barcelona „Sobreatico“. „Sobreatico“ bedeutet „über der Dachwohnung“, weil diese Bauten in Barcelona oft in Eigenbau auf das Obergeschoss gesetzt wurden. Einfach gebaut und meist nicht besonders isoliert, waren diese Wohnungen eine Art Sauna im Sommer und sehr kalt im Winter. Trotzdem sind sie bis heute extrem begehrt, weil man mit toller Aussicht über den Dächern Barcelonas lebt und dazu eine große Dachterrasse hat.
Oliver und ich waren uns sofort sympathisch und als ich seinen speziellen Humor kennenlernte, wusste ich, wir würden viel Spaß miteinander haben.
Erst Drag im „El Cangrejo“, dann in die Aurora Bar
Mit ihm lernte ich Ecken Barcelonas kennen, die ich alleine vermutlich nicht kennengelernt hätte. Er führte mich in die Bar „El Cangrejo“ im Raval, eine Bar, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts existierte und in der ich zum ersten Mal eine Dragqueen-Show bestaunen durfte. In den 90ern waren diese sehr trashig und kitschig und unglaublich lustig, vor einer ebenso trashigen Kulisse.
Spätnachts endeten unsere Ausflüge manchmal in der Aurora Bar im Raval, eine Art improvisierte Bar, in der sich Künstler und Anwohner des Viertels auf ein letztes Getränk trafen. Ich erinnere skurril verkleidete Barbies, die diese Bar dekorierten und dass es irgendwie keine richtigen Stühle gab. Es war wie eine Hinterzimmeratmosphäre, ein undefinierter Raum, in dem alles erlaubt war. Inzwischen gibt es die Aurora Bar nicht mehr. Ich glaube, diese Bar war nie wirklich legal, vielleicht war genau das der besondere Reiz daran.
Wir zeichnen verstörende Comics und komische Prinzessinnen
Nachdem ich eine ganze Zeit lang tagsüber und nachts die Stadt bestaunt hatte, fing ich an mich zu fragen, womit ich in Zukunft mein Geld verdienen werde. In dieser Zeit hatte ich mich bereits für den folgenden Illustrationskurs nach dem Sommer in einer Kunst und Designschule eingeschrieben. Der Sommer fing gerade an und Oliver hatte Ferien, sodass wir miteinander vereinbarten, uns jeden Tag auf seiner Dachterrasse zum Zeichnen zu treffen. Oliver zeichnete sehr verstörende Comics mit lustigen Figuren. Ich erinnere zum Beispiel eine sehr angsteinflößende Mutter mit Lockenwicklern und Bademantel, die ihre Kinder in den Zigarettenladen schickt, um Kaffee zu kaufen, obwohl sie weiß, dass es dort keinen Kaffee gibt. Die Kinder wissen das auch und gehen voller Angst Hand in Hand in den Tabakladen. Leise fragen sie nach einem Pfund Kaffee, woraufhin die unglaublich böse Angestellte sehr, sehr wütend wird…
Klingt verstörend, war als Comic allerdings sehr lustig anzusehen und definitiv nichts für Kinder. Ich hingegen fing an, absurde Prinzessinnen zu zeichnen, die Dinge taten, die Prinzessinnen normalerweise nicht tun. Dann gab es noch die Serien von Riesen, die aussahen wie aufeinandergestapelte Kartoffeln. Dicke, klobige Riesen und dünne lange mit sehr krummer Haltung, die aussahen, als würden sie beim nächsten Schritt über ihre eigenen Beine stolpern.
Neue Tango Tanzschritte auf der Dachterrasse
Wir zeichneten und zeichneten und ab und zu machten wir Pausen, in denen wir uns mit Wasser bespritzen und oder das eine oder andere Rotweinglas tranken nach Sonnenuntergang. Ab und zu kam es auch vor, dass der kubanische Tangotanzlehrer auf der Dachterrasse Tangounterricht gab. Ich war in dieser Zeit großer Tangofan und ließ mir von ihm so manchen neuen Move zeigen. So saßen wir am Zeichnen und hörten im Hintergrund das Quietschen der Turnschuhe auf den Terrassenfliesen zu Astor Piazzollas „Libertango“.
Ende Juni war es kaum noch auszuhalten und wir wurden immer träger. In der Mittagszeit war es inzwischen 40 Grad heiß auf Olivers Terrasse. Jetzt konnten wir uns nur noch spät abends treffen und selbst dann, war jede Bewegung eine Anstrengung. Ich fühlte mich wie eine alte Afrikanerin, die vor ihrem Haus sitzt und sich nicht bewegt, wenn eine Fliege auf ihrer Nase sitzt. Jede Anstrengung war zu viel. Ich weiß nicht, wie Oliver es geschafft hat, in dieser extrem heißen Wohnung im Juli und August nachts zu schlafen. Vermutlich halfen ein paar Ventilatoren und seine damalige Jugend.
Am Ende des Sommers hatte ich dann ein erstes Dossier mit Zeichnungen für die Barceloner Verlage vorbereitet. Natürlich wählte ich dabei Motive aus dem Kinderbuchbereich aus, die für die jeweiligen Verlage interessant sein konnten. Zwischen diesen Zeichnungen verirrte sich aber auch immer mal die eine oder andere Prinzessin oder einer der klobigen Riesen.
Kein konkretes Ziel
Zum Glück haben sich meine Zeichnungen im Laufe der Jahre weiterentwickelt. Ich glaube, ich habe nie wieder so ungebremst und frei alberne Dinge gezeichnet wie in diesem Sommer auf Olivers heißer Dachterrasse. Heute ist wieder so ein unglaublich heißer Tag und anstatt absurde Dinge zu zeichnen, sitze ich an meiner Steuererklärung. Gerade habe ich das Prinzessinnenbuch gesucht und leider nicht gefunden. Es wird wohl Zeit, wieder neue, absurde Zeichnungen entstehen zu lassen. Ohne jeden Sinn, ohne jedes Ziel. Mir ist so heiß, ich werde erstmal was Kaltes trinken und einfach aus dem Fenster schauen, ohne mich zu bewegen. Dann werde ich versuchen, Olivers Mailadresse herauszubekommen, denn er ist vor Jahren aufs Land gezogen und wir haben keinen Kontakt mehr.
Ich bin gespannt, ob seine Erinnerungen mit meinen übereinstimmen. Vielleicht hat die Hitze des ersten Sommers in Barcelona auch manche Anekdoten verändert und bestimmt fehlt ganz viel. Es bleibt auf jeden Fall die Erinnerung an eine Zeit des Aufbruchs und an das Gefühl der Jugend, die Welt steht mit offenen Armen vor uns. Alles war möglich in dieser Zeit.
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